Die Zeit rinnt mir hin und wieder wie Sand durch die Finger. So liegt das Wave-Gotik-Treffen 2013 bereits über einen Monat zurück. Manche Erinnerungen erscheinen jedoch noch ganz frisch. Insbesondere die zahlreichen Begegnungen haben sich eindrucksvoll im Gedächtnis verankert. Gedanken daran zaubern ein Lächeln auf das Gesicht. Waren es doch nicht die wenigen besuchten Konzerte, die mein WGT 2013 geprägt haben, sondern vielmehr die wundervollen Gespräche mit Menschen, die ich leider viel zu selten treffe. Oftmals bieten die Pfingsttage in Leipzig die einzige Möglichkeit, sich jenseits der virtuellen Welt des globalen Datennetzes auszutauschen und sich dabei in die Augen zu blicken.
Schon der erste „Programmpunkt“ – das abendliche bzw. nächtliche Eröffnungspicknick der „Blauen Stunde“ unweit des Parkschlösschens – bot hierfür die perfekte Kulisse. Die dunkle Weite des Parks wurde durch einige im Boden steckende Fackeln schwach beleuchtet. Ruhige Musik wehte herüber. Von allen Seiten schritten schemenhafte Gestalten mit Lichtern in den Händen auf die bereits lagernde Gruppe zu. Die wandernden Grablichtfünkchen sorgten für eine still-romantische Stimmung. Ein phänomenaler Anblick, der durchaus eine gewisse Gruselfilmatmosphäre verströmte. Niedergelassen am Rand des Kreises beobachtete ich die Ankunft weiterer Schwarzgewandeter. Der Duft frisch gemähten Grases und des blühenden Bärlauchs, das Gemurmel der Gespräche, die leise Musik, das Schluchzen der Nachtigall – ein zauberhaftes Ambiente. Aus der Dunkelheit tauchten nun auch nach und nach bekannte Gesichter auf. Lachen und Quatschen unter einem gnädig gestimmten Wolkenhimmel, der nur gelegentlich eine Mondsichel freigab. Doch um Mitternacht musste diese Abendgesellschaft verlassen werden. Der nächste Tag versprach kraftzerrend zu werden. Vor der Rückkehr in die Unterkunft stand allerdings noch eine Kletteraktion über einen Zwei-Meter-Zaun – das Parktor war verschlossen…
Der Freitag stand traditionell im Zeichen des Pfingstgeflüster. Als Hintergrund und Kulisse für das Ablichten einiger Besucher dienten das Grassi-Museum und der anschließende alte Johannisfriedhof. Ganz ohne Zwangsmaßnahmen anzudrohen, konnte ich auch einige mir bekannte Menschen vor die Linse holen. Was das auch schon in vorherigen Jahren vorkommende Ringen der Sucht nach Gedankenaustausch mit der Leidenschaft für die Fotografie nicht gerade minimieren konnte. Zumeist behielt aber die Vernunft – sprich die Begeisterung für die Lichtmalerei – die Oberhand. Schließlich möchten die Leser des Pfingstgeflüster neben den Texten auch hochwertige Aufnahmen sehen. Nach einer Idee von Robert und einem Gespräch während der „Blauen Stunde“ hatte sich Rosa – die im letzten Jahr über das Viktorianische Picknick berichtete – ebenfalls zum Grassi locken lassen. Robert hat sich dadurch – neben dem bereits vereinbarten – einen zweiten Beitrag für das Pfingstgeflüster „eingehandelt“. Zufrieden, um einige Begegnungen reicher, mit sieben Stunden in den Beinen und diversen Gigabyte an Bildmaterial wurden die letzten „Modelle“ um 18 Uhr entlassen.
Ob nun bei der „Blauen Stunde“, anlässlich der Fotoaufnahmen für das Pfingstgeflüster, zu später Stunde während der Gothic Pogo Party in tiefe Sofas versunken, beim Spontis-Treffen bei strahlendem Sonnenschein auf einer Wiese sitzend, sich stundenlang an einem Getränk in einem Leipziger Bistro festhaltend oder an den zahlreichen anderen Orten in Leipzig, an denen man sich verabredet hat oder spontan bekannte Gesichter auftauchten – es sind die großartigen Begegnungen, die das WGT einzigartig machen. Begegnungen mit Menschen, die anders denken und fühlen als ein Gros der Gesellschaft. Die sich für morbide Themen abseits des Alltäglichen interessieren. Ungemein bereichernd die Gespräche, die oftmals zu kurz ausfielen. Hätte es doch noch so viel gegeben, über das man hätte reden wollen. Neben dem Lächeln taucht nun auch etwas Wehmut auf – ist es schließlich eine unendlich erscheinende Zeitspanne, bis man sich in Leipzig wieder trifft. Somit erfüllt sich wohl die Vision des „Erfinders“ des WGT Michael Brunner: einen „Ort“ zu schaffen, an dem sich ähnlich denkende und fühlende Menschen treffen und nebenbei etwas Musik genießen.
Ja, Musik gab es durchaus. Beispielsweise den recht emotionalen Auftritt von „Das Ich“, vor dem allerdings zuerst das Durchschreiten der Agra-Flaniermeile bewältigt werden musste. Ein buntes Treiben. Zu bunt. Zu laut. Diverse Gerüche überlagerten sich. Seltsame Verkleidungen im Augenwinkel. „Stimmungsmusik“. Erinnerungen an Volksfeste wurden geweckt. Keine allzu schönen. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Der Halleneingang in Sicht. Durchatmen. Ein tolles Konzert entschädigte für diesen unvermeidbaren Ausflug in eine Welt, die mich zu sehr an die bunte Spaßgesellschaft erinnerte, zu der man sich ursprünglich einen Gegenpol schaffen wollte.
„Das Ich“ – eine Band, die mich schon lange begleitet. Umso trauriger war vor zwei Jahren die Nachricht, dass Sänger Stefan Ackermann mehrere Hirnblutungen erlitten hatte. Die Wahrscheinlichkeit des Überlebens, geschweige denn einer Rückkehr auf die Bühne war gering. Und nun stand Stefan Ackermann doch wieder am Mikro, was einem Wunder glich und für große Freude sorgte. Ganz der „Alte“ ist er noch nicht – was wohl auch kaum jemand erwartet hatte. Ein diabolisches Toben über die Bühne ist nicht möglich. Doch schien ihn der tosende Beifall nach jedem Titel zusätzliche Kraft zu verleihen, ihn zu beflügeln. Applaus als Medizin. Das Konzert war der perfekte musikalische Einstieg in das 22. Wave-Gotik-Treffen.
Frohgestimmt folgte noch das Konzert der polnischen Band „Das Moon“, die mir vor dem WGT noch vollkommen unbekannt waren, mich aber durchaus überzeugen konnten. Fast hätte ich meine fränkische „Besonnenheit“ aufgegeben und nach dem Auftritt mit aller Spontanität einen Tonträger erworben. Doch Rücken und Füße verweigerten nun jegliche zusätzliche Belastung…
Quelle: Youtube (Das Moon)
Für den musikalischen Höhepunkt sorgten jedoch „IAMX“ mit einem überaus mitreißenden und stimmungsvollen Auftritt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich jemals ein unter dem Titel „Mitternachtsspezial“ veranstaltetes Konzert so begeistern konnte. Zumeist waren es eher die Vertreter der ruhigeren Spielarten, die gegen 1.00 Uhr nachts die Agrabühne erklommen haben und dem müden Körper kein Futter lieferten, um die letzten Energiereserven abzurufen. Dies vermochten bisher nur diverse nächtliche Partys. Nicht so diesmal. Die musikalischen Klänge von „IAMX“ fuhren unaufhaltsam in die Beine und so war es auch nicht so schlimm, dass man sich aufgrund der miserablen Bühnenbeleuchtung von der hörbaren Spielfreude der Musiker nicht auch visuell überzeugen konnte.
Quelle: Youtube (Seelenmord6)
Enttäuscht wurde ich auch nicht von den Auftritten von „The Cassandra Complex“ (wobei Klang- als auch Lichtqualität eher bescheiden waren und ich mich somit lieber an den Auftritt beim WGT 2007, der ein unvergleichliches Erlebnis war, erinnere), „Whispers In The Shadow“ (dunkle Gitarrenmusik bei strahlendem Sonnenschein), „Principe Valiente“ (gefühlvoll) und „I Like Trains“ (noch gefühlvoller).
Quelle: Youtube (noizeart)
Besonders positiv sind mir die besuchten Lesungen im Gedächtnis geblieben. Allesamt im Centraltheater. Am Samstag Thomas Manegold mit Lisa Morgenstern. In den Zuschauersaal hatte man ein Amphitheater aus weißem Holz aufgebaut. In der Mitte des Raums standen ein Klavier, ein Stuhl und ein Tisch. Bescheiden und sachlich. Leidenschaftlich hingegen die beiden Protagonisten. Intensive Sprache fesselte die Zuhörer. Sobald ein Blatt gelesen war, lies Thomas Manegold dieses wie nebensächlich auf den Boden gleiten. Dieser wurde am Ende von einem Meer aus weißem, beschriebenem Papier bedeckt. Die einzelnen Texte wurden durch Klavier-Gesangs-Einlagen von Lisa Morgenstern getrennt. Faszinierend diese Modulation der Stimme. Unter die Haut gehend die Liedtexte. Überaus beeindruckend und die eigene Gefühlswelt in Bewegung bringend.
Ebenso für Kurzweil sorgte Klaus Märkert, der aus seinem neuen Kurzgeschichtenbuch „Schlagt sie tot in den Wäldern“ und aus dem zweiten Teil seiner autobiografischen Erzählung „Requiem für Pac-Man“ las. Klaus hat so eine ganz besondere, unaufgeregte Art, zu lesen – was auch seinem Schreibstil entspricht. Und so trug er seinem Publikum in aller Ruhe Ungeheuerlichkeiten vor, die begeistert aufgenommen wurden. Der Bücherstapel auf dem Tisch verschwand nach der Lesung vollständig. Kurz darauf betrat Herr Christian von Aster das Rund. Sah sich um und entschied in demokratisch-diktatorischer Abstimmung mit dem Publikum, dass er sich nach jedem vorgetragenen Text an eine andere Tischseite setzt. So hat jeder im Publikum in der Runde ihn mal von vorn, von rechts, von links und von hinten. Aster ist schon ein Naturtalent, was Situationskomik betrifft. Treffsicher. Seine Lesung rund um den Tisch erwartungsgemäß ein Feuerwerk von spitzfindigen Sätzen und humoristischen Einfällen. Und wie immer: viel zu schnell vorbei. Eine Frage blieb allerdings ungeklärt: Welches mathematische Gesetz, göttliche Weisheit oder undurchschaubarer Wille sind wohl dafür verantwortlich, dass mit steigender Anzahl der asterschen Lesungs-Begeisterten die real vorhandene Platz-Anzahl sinkt. Bei Wikipedia ist hierzu keine Antwort zu finden.
Ach ja, Partys gab es selbstverständlich auch. Beispielsweise die Joy Division Party in Noels Ballroom – einer irischen Kneipe, die anfangs für Irritationen sorgte. Doch „verschlungene Pfade“ führten doch noch zu dem kleinen, für die Party zur Verfügung stehenden Raum. Der erste Blick galt der dem Eingang gegenüberliegenden Wandseite. Diese schmückte ein Balkon mit Statler und Waldorf, den beiden Alten aus der Muppets Show. Einfach herrlich. Allein deswegen hat sich der Besuch gelohnt. Fast schon zur Tradition geworden: die When We Were Young Party im Werk II. Eine schöne Atmosphäre, die allerdings nicht an die vorhergehenden Jahre herankam. Vielleicht lag es daran, dass ich aufgrund einer gerade auskurierten Erkältung und den vorherrschenden lausigen Temperaturen den Innenhof des Werk II mied, wo sonst immer viel geschwatzt und gelacht wurde. Spät (oder besser gesagt: früh) wurde es trotzdem. Zum Abschied sangen die Drosseln im Licht des Morgens ihre Lieder. Ein Höhepunkt war unbestritten die Gothic Pogo Party. Erst wurde den spannenden Klängen gelauscht, um sich anschließend auf die bereits angesprochenen, durchgesessenen Sofas fallen zu lassen und – wie sollte es anderes sein – zu quatschen, was ich gerne noch länger genossen hätte. Allerdings „forderten“ brennende Augen und mit einem Schleier überzogene Kontaktlinsen zum Gehen auf. Ach, ihr „bösen“ Raucher. Draußen begrüßte mich im hellen Licht viel frische Luft und frenetisches Vogelgezwitscher.
Mit dem letzten Programmpunkt schloss sich sozusagen der Kreis. Die Blaue Stunde sorgte für einen stimmungsvollen Ausklang. Wieder bekannte Gesichter, Gespräche. Und so schritten die Zeiger der Uhr unaufhaltsam voran, bis irgendwann die Vernunft zum Aufbruch mahnte und ich dem Wave-Gotik-Treffen 2013 wehmütig „Auf Wiedersehen“ zuflüsterte…
2 Comments
Kein Wunder, dass Du erst jetzt zum Blogbeitrag übers WGT kommst bei der ganzen Pfingstflüsterei! Ist ja immer jede Menge Arbeit und hat auch Priorität. Habe mich aber trotzdem gefreut, hier bei Dir noch ein paar Eindrücke vom WGT zu lesen. Über „Frenetisches Vogelgezwitscher“ musste ich lachen 😉 – wer hat das schon! Ihr wart sicher froh, dem Qualm entflohen zu sein… Aber ich fand es auch sehr schön, dass wir uns wirklich mal gefühlte 1,5h auf der Gothic Pogo unterhalten konnten. Wie immer gehen mir mit Dir die Themen nicht aus 😉
Schöner Rückblick – und vom WGT kann man nicht genug lesen. Gern auch nachträglich!
[…] Gesprächsmäander und Worttsnuamis – das Wave-Gotik-Treffen 2013 | Gedankensplitter “Ja, Musik gab es durchaus. Beispielsweise den recht emotionalen Auftritt von „Das Ich“, vor dem allerdings zuerst das Durchschreiten der Agra-Flaniermeile bewältigt werden musste. Ein buntes Treiben. Zu bunt. Zu laut. Diverse Gerüche überlagerten sich. Seltsame Verkleidungen im Augenwinkel. „Stimmungsmusik“. Erinnerungen an Volksfeste wurden geweckt. Keine allzu schönen. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Der Halleneingang in Sicht. Durchatmen. Ein tolles Konzert entschädigte für diesen unvermeidbaren Ausflug in eine Welt, die mich zu sehr an die bunte Spaßgesellschaft erinnerte, zu der man sich ursprünglich einen Gegenpol schaffen wollte.“ […]