„One-chew-free-faw…“ Als diese vier Worte ertönten, teilte sich die Masse hinter uns, um einer Gruppe ausgelassen tanzender Punks Platz zu machen. Wenn ich an die Anfänge meiner persönlichen Festivalhistorie zurückdenke, habe ich sofort dieses Bild vom Bizarre-Festival 1990 vor Augen. Im Geiste formen die Lippen ein dynamisches „Hey Ho, Let´s Go“ und ich frage mich, ob damals wirklich jeder zweite Besucher ein Shirt mit Ramones-Aufdruck trug, wie es mir meine Erinnerung glauben lassen möchte. Mittlerweile ist über ein Vierteljahrhundert ins Land gegangen, die Hälfte der damals auf der Bühne Stehenden zelebrieren ihren Drei-Akkorde-Punk-Rock im Himmel der Musiklegenden und auch das Bizarre ist längst Geschichte.
Was blieb ist jedoch die Leidenschaft für Musik. Und so sind die Besuche einiger Festivals im Jahr weiterhin ein fester Bestandteil meines Lebens. Allen voran wurde das Wave-Gotik-Festival zur Tradition. Und so möchte ich im Rahmen des „Gothic Friday“ ein wenig in meinem Gedächtnis kramen, zurückblicken, mich an schöne Momente erinnern und persönliche Eindrücke wiedergeben.
War es anfänglich die allgemeine Atmosphäre einer von der Farbe Schwarz dominierten Stadt, die mich sprachlos werden ließ und mir nach Pfingsten Tage voller Post-WGT-Melancholie bescherte, sind es mittlerweile die zahlreichen Begegnungen mit besonderen Menschen, mit denen ich Ansichten und Vorlieben teile und deren Gesellschaft man viel zu selten genießen kann.
Das erste Mal
Den ersten Besuch eines Wave-Gotik-Treffens dürfte wohl niemand vergessen. So erinnere auch ich mich gerne an meine ersten WGT-Stunden. Freunde berichteten von einer Stadt im Ausnahmezustand und zeichneten ein Bild ziemlich chaotischer Verhältnisse. Doch die Möglichkeit, einige meiner Fotografien in der Messehalle 16 (heute Volkspalast) auszustellen, zog mich relativ spontan und ohne Unterkunft nach Leipzig. Mich erwartete eine in meinen Augen unwirkliche Atmosphäre. Ob nun der Mittelaltermarkt um die Moritzbastei, die entspannt im Brunnen vor der Oper sitzenden Gruftis oder die Architektur der Messehalle 16. Dazu so viele in augenfreundlichen Farben gehüllte Menschen. Die Flut an Eindrücken war überwältigend. Von denselben wie beseelt „schlenderte” ich nach meinem ersten WGT-Abend bei Sonnenaufgang vom Agra-Gelände zur alten Messe, wo mein Auto (und Nachtquartier) stand. Meinen Gedanken nachhängend, Geschehenes und Erlebtes verarbeitend, lauschte ich einer stillen Stadt. Einzig Vogelgezwitscher durchbrach die Lautlosigkeit.
Die Folgezeit
Zu dieser schönen Erinnerung haben sich Jahr für Jahr weitere angenehme Erlebnisse ins Gedächtnis gegraben. Beispielsweise die roten Grablichter, die wie von Geisterhand beim Eröffnungspicknick der Blauen Stunde am Parkschlösschen über die Wiese zu schweben scheinen. Oder ein Abend in der Moritzbastei, als der „Schallplattenunterhalter“ einen tollen Titel an den anderen reihte und ich unendlich dankbar war, als ein in meinen Ohren schrecklich klingendes Stück aus den Boxen drang, um zu dringend benötigtem Atem zu kommen. Oder die Entdeckungen mir bisher unbekannter Bands, deren Spielfreude begeistert, die für frischen Wind sorgen oder alte musikalische Traditionen in moderne Gewänder hüllen.
Unvergesslich bleibt eine laue und von Beginn an herrlich alberne Nacht im Werk II. Auf einer Bank sitzend beobachteten wir das Treiben zwischen den Hallen. Aus einem kleinen Zugang tauchte plötzlich ein Mann mit Fahrrad auf. Erste Fragezeichen schwebten über unseren Köpfen. Woher? Wohin? Noch vor dem Ausgang änderte der Radfahrer seine Meinung und verschwand wieder in dem kleinen Zugang. Es folgte ein weiterer Radfahrer. Und noch einer… Ein Fahrradtunnel mit Innenstadtanschluss? Eine Teleportationsstation für Zweiräder? Oder gar ein Wurmloch im Zeit-Raum-Kontinuum? Es gab sicherlich keine blödsinnige Erklärung, der wir uns nicht gewidmet hätten. Meiner Begleiterin liefen die Lachtränen literweise aus den Augen. Bei mir hingegen zeigten sich erste Anzeichen eines Muskelkaters im Gesicht. Ganz ohne Party und Alkohol – es war ein unvergesslicher Abend. Auf jeden Fall war es einer der lustigsten.
Konzertantische Höhepunkte
Wenn ich auf all die Jahre zurückblicke, heben sich aus der Masse an Auftritten zwei heraus:
Nach einer längeren Schaffenspause gaben „The Cassandra Complex“ 2007 erstmalig wieder ein Konzert. Verhalten, schüchtern, ja, fast ein wenig unsicher stand Rodney Orpheus auf der Bühne des Kohlrabizirkus. Mit Erstaunen stellte er fest, dass ihn die Menschen nicht vergessen hatten. Im Gegenteil: Die große Begeisterung der Zuhörer zauberte ein kindliches, fast ungläubiges Lächeln in sein Gesicht. Wie beflügelt gestaltete er seinen Auftritt mit gesteigertem Feuer. Eine wunderschöne Zwiesprache zwischen Musiker und Publikum.
Das erste Monumentum am Völkerschlachtdenkmal im Jahr 2001 bleibt unvergesslich. Die einzigartige Musik von „Laibach“ dargeboten in der Kulisse dieses gewaltigen Bauwerks ist für sich gesehen schon außergewöhnlich. Dazu aber noch zahlreiche bengalische Feuer, die das Bauwerk in gespenstisch-rotes Licht tauchten, Rauch, der gen Nachhimmel aufstieg und strömender Regen. Richtig strömender Regen. Bombastisch! Obwohl bis auf die Haut durchnässt, war ich glücklich und zufrieden. Hatte ich doch den Eindruck, etwas mehr als Besonderem beigewohnt zu haben.
Das WGT 2016
Das diesjährige WGT stand ganz im Zeichen des Pfingstgeflüsters. Neben den üblichen Aufgaben, die beim Anfertigen dieses Rückblicks auf das WGT anfallen, feierten wir die 10. Ausgabe in Form einer Ausstellung im Grassimuseum. Unter dem Titel „Gesichter des Wave-Gotik-Treffens“ waren 38 Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die zwischen 2005 und 2015 entstanden sind, zu sehen.
Der offizielle Start ins WGT 2016 gestaltete sich „bizarr“. Die Erwartungshaltung hinsichtlich der Eröffnungsfeier im Belantis-Freizeitpark war niedrig, dafür die Skepsis umso höher. Schließlich sehe ich für gewöhnlich keine vernünftigen Gründe, einen Vergnügungspark zu besuchen. Das Gekreische, welches uns auf dem Parkplatz empfing, erhöhte die Vorbehalte noch. Mit einer Portion Sarkasmus und einer gewissen Offenheit war es insgesamt betrachtet jedoch durchaus amüsant. Allerdings ohne Achterbahn & Co., denn Fahrgeschäfte und alles, was so dazu gehört, sind definitiv nicht meine Welt. In Anbetracht der in der Pyramide auflegenden DJs haben wir ein Betreten dieser Örtlichkeit – trotz aller Aufgeschlossenheit – nicht gewagt. Die anderen drei Tanzflächen warteten hingegen mit einem netten bis guten musikalischen Programm auf.
Unverhofft vernahm ich die Kunde, dass „Public Image Ltd.“ auftreten sollten. Mehrmals starrte ich ungläubig auf den Programmplan. Es war keine Halluzination. In der Nacht von Sonntag auf Montag sollte ich erstmalig Johnny Rotten, den ehemaligen Frontmann der „Sex Pistols“, auf der Bühne erleben. Ehrlich gesagt war meine Erwartungshaltung nicht besonders hoch, trotzdem wollte ich mir dieses Ereignis auf keinen Fall entgehen lassen. Und: Es hat mir unvermutet viel Spaß bereitet, dem alten Punkhelden und seinen Mitmusikern zuzuhören. Sicherlich eines der positiven musikalischen Überraschungen des diesjährigen Treffens.
Mit den Jahren rücken Konzerte zunehmend in den Hintergrund. Das vielfältige Angebot – auch abseits der Konzerthallen – stellt mich vor eine unlösbare Aufgabe: Wie lassen sich die zahlreichen parallel stattfindenden Programmwünsche – noch dazu mit den bereichernden Gesprächen mit zufällig getroffenen Freunden und Bekannten – vereinbaren? Leider hat ein Tag auch während des WGT nur 24 Stunden. Die Entwicklung von Apparaten zum Beamen und Klonen auf Zeit oder ähnlichen potentiell hilfreichen Technologien wird sehnlichst entgegengefiebert.
Sonstige persönliche Höhepunkte waren die Abschlussparty in der Agra in überaus angenehmer Gesellschaft) und die „When We Were Young“-Party am Samstag im Täubchenthal, welche wir nur kurz besuchen wollten. Die Augenlider waren schwer und der Kopf schaltet wiederholt auf „Stand by“. Doch „leider“ schienen die DJs meine persönliche Playlist kopiert zu haben, weswegen der anklopfenden Müdigkeit tapfer die Stirn geboten wurde. Nicht unerwähnt soll die Feier im Schwarz 10 bleiben, deren Gäste sich zwar in einem sehr überschaubaren Rahmen hielten, aber mit netten Menschen auf dem Sofa herumlümmeln, in den von Kerzenschein nur leicht beleuchteten Raum blicken, sich von den herüberwabernden Nebelschwaden hypnotisieren lassen und angenehmen Klängen lauschen – was will man mehr?
Weitere Festivals
Seit dem eingangs erwähnten Bizarre Open Air hatte ich das Glück und Vergnügen viele weitere Festivals besucht haben zu können. Doch den großen Freiluftveranstaltungen habe ich vor langer Zeit den Rücken gekehrt. Schien sich hier doch zunehmend der Geist einer verhassten Spaßgesellschaft breit zu machen. Und im Gegensatz zum Wave-Gotik-Treffen, wo man diesen Geist stellenweise ebenfalls vorfindet, diesem aber leicht entfliehen kann, ist man ihm bei so manchem großen Szenefestivals ausgeliefert. So ist der Besuch des Dark Spring Festivals in Berlin – organisiert von der Band „Golden Apes“ – obligatorisch. Klein, fein und handverlesene Bands aus den Bereichen Post Punk und Gothic Rock. Ebenso treu bin ich dem Nocturnal Culture Night Festival, dessen tolles Ambiente und abwechslungsreiche Bandzusammenstellung jenseits der üblichen Auswahlkriterien großer Veranstalter mich Jahr für Jahr nach Deutzen lockt.
2 Kommentare
Toller Beitrag, besonders gefällt mir das Bild von deiner Ausstellung mit „geisterhaften“ Besuchern 😉 und das von Rodney Orpheus. Cassandra Complex 2007 waren wirklich super – ein wunderbares Konzert. Wie Rodney sagte: „Ihr seid wirklich unglaublich!“. Ebenso gut in Erinnerung habe ich das Monumentum 1 in Erinnerung. Witzig, bei beiden kannten wir uns noch nicht, haben es aber ähnlich empfunden.
[…] sind auch für Kathi Traumtänzerin, Dennis, Ines Flederflausch, Shan Dark, Svartur Nott, Ronny, Markus und Fledermama Gründe um das WGT zu besuchen. „Wiedersehensfreude, Umarmen, “meine” […]