Der Mailänder Dom. Ein Bauwerk der Superlative. Weltweit gibt es nur zwei Kirchen, die eine größere Fläche in Anspruch nehmen. Die Bauzeit des Duomo di Santa Maria Nascente zog sich durch fünf Jahrhunderte. Und auch heute dürfte kaum ein Besucher diese Kirche ohne Gerüst oder ähnliches zu Gesicht bekommen. Insbesondere wegen der schweren Deckenkonstruktion sind laufend Restaurationsarbeiten nötig. So beherbergt das Innere des Doms auch schon einmal einen kompletten Baukran. Besinnlichkeit Fehlanzeige. Bis zu 40.000 Besucher finden in dieser imposanten Anhäufung von weißem Marmor Platz. Doch sind es keine Zahlen, sondern die filigrane Schönheit, die mich beeindruckt. Ein Bau, der trotz aller Größe und Mächtigkeit eine außergewöhnliche Leichtigkeit ausstrahlt. Ebenso bemerkenswert wie wohl einzigartig: dieser Kirche kann man „aufs Dach steigen“. Für mich eine ganz neue Erfahrung.
Vorher steht nur der Erwerb eines Tickets – wahlweise für Treppe oder Aufzug – und eine Taschenkontrolle durch Uniformierte. In der Hoffnung, ein besonderes Treppenhaus bewundern und ablichten zu können, wähle ich die günstigere Variante. Allerdings bereitet der sehr schmale Aufstieg wenig Freude. Doch nach 200 Stufen, Gegenverkehr und zahlreichen Ecken trete ich aus dem Treppenschacht ins Freie, wo sich mir ein Blick durch eine traumhaft schöne lange Reihe von Seitenstreben eröffnet. Verziert, wie aus Plauener Spitze erschaffen. Und wohin man auch schaut: Statuen, Statuen, Statuen. Es sollen fast 4000 Skulpturen sein. Jede ein Einzelstück. Figuren, die vom Boden betrachtet Puppengröße haben, erscheinen nun lebensgroß. Und über allem thront eine etwa vier Meter hohe, goldene Madonna. Das Auge findet keinen Ruhepunkt. Entlang der unteren Dachschrägen, die betreten werden können, führt ein Weg zu einer weiteren Treppe. Unterschiedliche Reliefs zieren jeden steinernen Querbalken. Und auch die Durchgänge unter den Seitenstreben sind sehenswert.
Nach der Bewältigung der letzten Stufen eröffnet sich mir ein weites Areal. Mittig ein schmaler waagerechter First. Das Dach aus rosig-beigen Steinplatten. Begrenzt durch ein Geländer, ebenfalls verziert mit teilweise rätselhaften kleinen Wesen. Um mich herum streben zahlreiche filigrane Türme gen Himmel. Jeder individuell gestaltet und trotzdem bilden sie zusammen eine Einheit. Auf flachen „Mäuerchen“ sitzend bewundere ich die Einmaligkeit dieser Dom-Terrassen. Welche Kirche hat das schon? Mein Blick schweift umher und entdeckt weitere Details.
Viele Menschen haben den Weg nach oben gefunden. Und einige Besucher bleiben wie ich bis zum Ende. Es fällt schwer, sich loszureißen. Der Weg zurück zum Treppenschacht lässt mich wiederholt anhalten und den Blick durch die Streben genießen. Bis Karabinieri erscheinen und das Ende des Aufenthalts deutlich wünschen…
Nach einem Besuch des Mailänder Doms schrieb Mark Twain im Sommer 1867 folgende Worte, denen nichts hinzuzufügen bleibt (außer der einen oder anderen Fotoaufnahme):
Welches Wunder er ist! So großartig, so ernst, so riesengroß! Und noch so fein, so luftig, so anmutig! Eine Welt des festen Gewichts, und doch scheint das … eine Wahnvorstellung einer Eisskulptur, die mit einem Atemzug verschwinden könnte!… Die zentrale seiner fünf großen Türen wird von einem Basrelief von Vögeln und Früchten und Biestern und Kerbtieren begrenzt, die aus dem Marmor so genial geschnitzt worden sind, dass sie lebenden Wesen ähnlich sind – und die Figuren so zahlreich sind und das Design so kompliziert, dass man es eine Woche studieren könnte, ohne sein Interesse zu erschöpfen … überall, wo eine Nische oder eine Stütze an dem enormen Gebäude vom Gipfel bis zum Boden gefunden werden kann, gibt es eine Marmorstatue, und jede Statue ist eine Studie für sich… Weit oben, auf dem hohen Dach, springt Reihe auf Reihe der geschnitzten und ausgesägten Türmchen hoch in der Luft, und durch ihr reiches Flechtwerk sieht man den Himmel darüber… Oben auf dem Dach, das sich … von seinen breiten Marmorfliesen erhebt, waren lange Reihen von Türmchen, die aus der Nähe sehr hoch aussahen, sich aber in der Ferne verkleinerten… Wir konnten jetzt sehen, dass die Statuen auf der Spitze von jedem die Größe eines großen Mannes hatte, obwohl sie von der Straße alle aussahen wie Puppen… Sie sagen, dass die Kathedrale Mailands nur an zweiter Stelle nach dem Petersdom in Rom steht. Ich kann nicht verstehen, wie die Kathedrale zu irgendetwas vom Menschen Gemachtem an zweiter Stelle stehen kann.“
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