Bevor ich mich auf dem Pariser Cimetière du Montparnasse in das Gewirr aus Stein und Metall, künstlerischen Darstellungen und Schlichtheit stürze, fallen mir die hohen, mit Stacheldraht gesicherten Mauern auf. Und wo die Stadt der Toten an die Häuser der Lebenden grenzt, sind die Fenster dieser Häuser vergittert oder zu schmalen Schlitzen verkleinert. Unweigerlich muss ich an ein Gefängnis denken. Doch wer sind die Insassen? Die Toten oder die Lebenden? Ob wohl eine gewisse Angst vorherrscht, die Verstorbenen könnten eines Tages aus ihren Gräbern steigen und die Lebenden heimsuchen? Doch schnell vergesse ich diese Fragen und widme mich voller Faszination diesem großen Totenreich mit seinen Palästen, Avenuen, verwinkelten schmalen Gassen, zerfallenden Häuschen, prunkvollen Mausoleen und zerbröselnden Sarkophagen. Ein friedvolles Nebeneinander der sterblichen Überreste der Anhänger verschiedenster Kulturen und Religionen. Als zierendes Element sehe ich häufig die Sanduhr mit Flügeln… die entfliehende Zeit. Wie flüchtig sie doch ist. Uns allen ohne Ausnahme enteilend. Die Möglichkeit entbehrend, sie festzuhalten. Carpe diem!
Fast lebendig wirkende Eulen-Skulpturen versinnbildlichen möglicherweise die Weisheit des Verstorbenen. Oftmals symbolisiert die Darstellung eines Käuzchens aber auch Unheil, Finsternis und Tod. Der nächtliche Ruf der Eule wurde in unserem Volksglauben seit dem Mittelalter mit dem Tod eines Menschen in Verbindung gebracht. Des Weiteren staune ich über viele Freimaurerzeichen und Bildnisse aus dem alten Ägypten. Und so saugen meine Augen den Anblick schöner Skulpturen und faszinierender Details auf. Etwas irritiert mich der hohe eiserne Zaun, der ein Grab umschließt. Wird hier ein Ein- oder ein Ausbruch befürchtet? Eine alte Vinylsingle auf einer Grabplatte scheint die Gabe eines Vertrauten zu sein. Auf einer Weltkugel mehr schwebend als stehend ein kleiner Engel. Mit nur einem Flügel… wie lauten die Worte von Luciano De Crescenzo? „Wir sind alle Engel mit einem Flügel…“
Das zufällig entdeckte, unscheinbare Grab von Jean-Paul Sartre lässt mich kurz innehalten. Weckt es doch Erinnerungen an das Buch „Das Spiel ist aus“. Nach dem Tod werden die Verstorbenen in der Welt der Lebenden zurückgelassen, ohne jedoch auf diese Welt Einfluss nehmen zu können. Sie wandeln einzig als Beobachter zwischen den Menschen. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen zwei gewaltsam Getötete, die erst nach dem Tod zueinander finden und unter bestimmten Voraussetzungen gemeinsam zurück ins Leben dürfen.
Hunderte kleiner Mausoleen stehen teils dicht nebeneinander. Ein Hindurchgehen ist unmöglich. Auch die Wege sind oft nur sehr schmale Pfade. Eine zusammengebrochene Gruft gibt den Blick in Tiefe frei. Viele der verrosteten Türen aus Metall, halbvermoderte Holztüren, stehen halb offen und geben den Blick auf scheinbar nur noch vom Staub zusammengehaltene Bet-Stühlchen frei. Hier noch ein kleines Kreuz, dort ein Kerzenleuchter – von Spinnengewebe, das wie ein zartes durchscheinendes Geflecht wirkt, überzogen.
Überaus seltsam erscheint hingegen eine moderne Plastik. Wahrscheinlich Bronze. Ein ziemlich großer Fisch. Was daran besonders ist? Nun ja, an einer Seite hat der Fisch einen Busen. Ob dies eine tiefere Bedeutung haben mag?
Ich wundere mich nur kurz und erfreue mich sogleich an dem unweit stehenden Engel, der sich zu einer nackten Schönheit hinunter beugt. Sie reckt ihm sehnsuchtsvoll beide Arme entgegen.
Es sind oft die Details, die mich verharren lassen. Eine Öllampe in der Hand einer Skulptur. Ein fein gearbeiteter nackter Fuß leicht voranschreitend. Eine Ansammlung großer fünfzackiger Sterne aus Stein. Ein trauerndes Gesicht verhüllt mit einem Gazeschleier – so fein, so zart. Welch Steinmetzkunst! Ein Plüschtier, das womöglich schon einige Zeit hier im Staub sitzt und ebenso vergessen ist, wie der an dieser Stelle Beerdigte. Ein bemaltes Glasfenster zeigt einen strengen Alten mit Gesetzestafeln im Arm. Moses? Seltsame Strahlen schießen ihm aus der Stirn. Ein stilisierter Heiligenschein? Es sieht irgendwie teuflisch aus. Viele kleine Metalltafeln liegen auf einem Gräberfeld dicht an dicht. Nur die Namen und die Daten. Hier gibt es keine Bildhauerkunst und keine Mausoleen. Eine Tafel irritiert mich. Der Nachname wurde sauber herausgeschnitten. Die Gründe hierfür bleiben mir verborgen.
Kreuze mal blockig, mal filigran, zerbrochen oder in symbolhafter Variation – stehend, liegend, hängend. Schlicht oder protzig. Auf einem dieser steinernen Kreuze lässt sich eine Krähe nieder und ruft Bilder aus Filmsequenzen hervor.
So viel zu entdecken. Unmengen an sehenswerten Details. Zu viele, um sie alle zu erfassen.
Ein Soldat im wehenden Militärmantel eine Signaltrompete in der Hand haltend scheint mitten im stürmischen Vorwärtsschritt gebannt. Ein Bücherstapel, ledergebunden und alt steht möglicherweise für den Bildungsstand des nunmehr kaum noch Bücherlesenden dort unten. Eine von Kinderhand auf Papier gebannte und mit einem Stein beschwerte Nachricht trotzt – noch – der Witterung. Doch wer wird sie lesen? Ein Relief mit tief verhüllten und eng zusammenstehenden Gestalten bannt meinen Blick. Eine überaus düstere Darstellung. Für einen Moment vergesse ich die Welt um mich herum und versinke in diesem Bildnis…
3 Comments
Du hast wieder faszinierende Details festgehalten. Ich kann mich nur an Regen erinnern, als ich diesen Friedhof besuchte. Und dass ich unbedingt das Grab Baudelaires hier sehen wollte. Eigentlich war ich nur wegen seinem Grab da. Hast Du es nicht entdeckt? Es war auch nicht die Wallung, um ehrlich zu sein. Aber nun ja, Baudelaire…
Trotz Regen fand auch ich die Details an den Grabstätten dieses Friedhofs sehr schön.
Das Grab von Baudelaire habe ich nicht entdeckt. Aber ich war sicherlich auch zu sehr von den verschiedenen Skulpturen und den spannenden Details beeindruckt, wodurch die auf den Grabsteinen stehenden Namen in den Hintergrund traten.
Hast Du eigentlich die in der Nähe liegenden Katakomben besucht? Ich habe mich ja glücklicherweise für einen ausgiebigen Besuch des Friedhofs entschieden und mich nicht stattdessen in die lange Warteschlange vor dem Eingang zu den Katakomben eingereiht. Aufgrund des relativ kurzen Aufenthalts in Paris wären mir einige interessante Friedhofsansichten verborgen geblieben.
Natürlich war ich in den Katakomben 😉 – wir haben es genau umgekehrt gemacht: das Wichtigste waren die Katakomben und danach hatten wir noch bisschen Zeit für den Friedhof. Nur leider hat es irgendwann zu stark geregnet, so dass wir uns dann in eines der Cafés verzogen haben. Ich muss wirklich mal einen Beitrag über Paris schreiben.