Mein letzter Besuch war dem Friedhof bestimmt – eine Begräbnisstätte, die mehr als 60.000 Tote aufnehmen soll. An diesen Ort werde ich mich erinnern, selbst wenn ich die Paläste vergessen habe. Ein breiter Säulengang aus Marmor umgibt eine große leere rechteckige Fläche; auch der Boden ist aus Marmor, und auf jeder einzelnen Platte ist eine Inschrift. Auf beiden Seiten entlang des Ganges kann man Denkmäler, Grabmäler und Skulpturen bewundern, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet sind und Harmonie und Schönheit ausstrahlen.“
Mit diesen Worten beschrieb Mark Twain seinen Besuch des „Cimitero monumentale di Staglieno“ in Genua im Jahr 1869 – keine zwei Jahrzehnte nach der offiziellen Eröffnung dieses Friedhofs. Seit dem Besuch des Schriftstellers, dessen Begeisterung sich auch auf die Unversehrtheit der Skulpturen bezog, sind fast eineinhalb Jahrhunderte vergangen. Die Kunstwerke sind keinesfalls mehr „makellos“. Der Staub vieler Jahrzehnte hat sich auf die steinernen Grabstätten gelegt. Und die Zeit hat an der von Mark Twain so gehuldigten Perfektion genagt. Von vielen Wänden blättert der Putz und so mancher steinerne „Wächter“ einer Grabstelle hat seinen Glanz oder gar ein Körperteil verloren. Doch dadurch wurde dieser Friedhof seiner Faszination keineswegs beraubt.
Die Skulpturen scheinen versteinerte Menschen zu sein. Feinste Adern sind zu erkennen, Spitzengewebe und Stoffe mit zarten Stickereien und Mustern, Tierfell mit feinen Härchen nachempfunden, sogar Wimpern sind zu erkennen, schöne Frauen in durchscheinenden Gewändern mit allen Details ihrer Weiblichkeit modelliert. In einer Natürlichkeit, die atemlos macht. Ein riesiges Karree mit Wandelgang erwartet den Besucher. Offen zum Innenhof gelangt genug Licht auf die dicht an dicht residierenden Figuren. Engel mit ausladenden Flügeln, gestandene ältere Geschäftsleute, spielende Kinder – nahezu unbeschreiblich. Phantastisches und Realistisches nebeneinander, miteinander. Der Kopf geht zur Innenwand und zur äußeren Reihe – eine Massenansammlung schöner kunstvoller Statuen. Ich bin überwältigt. Meine Erwartungen waren hoch und wurden noch übertroffen. Noch nie blieben so viele Skulpturen von meiner Kamera unbeachtet. Aber auch noch nie habe ich so eine Fülle an Statuen abgelichtet. Staunend wandere ich durch die langen Gänge zwischen Licht und Düsternis, in denen nur selten andere Schritte zu vernehmen sind. Und fotografiere. Zwei Tage lang. Engel in unterschiedlichen Variationen, trauernde Gesichter, Damen voller Erotik, kleine Laternen, Perlenschnüre, gefaltete Hände – und: Totenschädel. Manches ist zerbrochen. Das Alter nagt nicht nur an den Lebenden. Lang nicht mehr „gefütterte“ Kerzenhalter. Kunstblumen, die dem Zerfall trotzen, verlieren ihre Farben. An anderer Stelle schleicht sich ein süßlicher Duft in meine Nase: Ab und zu sind auch echte Blumen zu finden. Die Platten auf denen ich voranschreite sind die „Türen“ zu den darunterliegenden Grabkammern. Eine dieser Kammern ist geöffnet. Ein Sarg ist zu erkennen. Und ein freier Platz. Dann ist auch diese Behausung „ausgebucht“.
Um den zum Innenbereich offenen Gang führen weitere Gänge. Teils deutlich düsterer. Und einsamer. Hier befinden sich Fächer an Fächer – hinter teilweise ebenfalls verzierten und mit Relief versehenen Abdeckplatten werden die Verstorbenen eingemauert.
Tauben schätzen die Überdachung dieser Totenhäuser. Sie sitzen gurrend und flatternd auf den Simsen. Leider tun sie auch noch mehr. Und so manche Skulptur an solch einer Ecke sieht dadurch nicht mehr ansehnlich aus. Nothilfe wie das Einwickeln mit Papier und Folie machen den Anblick wahrlich nicht schöner. Und dann fällt mein Blick auf eine mir bekannte Skulpturenanordnung. Maria und drei weitere Menschen trauern um den toten Jesus Christus. Zu sehen auf dem Plattencover von Joy Divisions zweitem Album „Closer“. Später entdecke ich auch noch den Engel, der die Single „Love Will Tear Us Apart“ schmückt. Ein trauernder, auf dem Rücken liegender Engel, der mit einer Hand seine Augen verdeckt.
Eine noch deutlich einfachere Variante des Begrabens ist die Unterbringung im kiesartigen Material des Berghanges, an welchem der Friedhof emporgewachsen ist. Manche dieser unordentlich und trostlos wirkenden Haufen werden später in Steinplatten gefasst. Auch das scheint sich allerdings heutzutage nicht jeder leisten zu können oder zu wollen.
Diverse kleinere Abteilung – u.a. auf den Dächern der Gänge – beherbergen die Urnenbestattungen. Einer Hochhaussiedlung gleich. Gleichförmig, uniform, trostlos; trotz der – allerdings zumeist künstlichen – Blumen.
Durch den Haupteingang kommend erhebt sich am Hang eine Art Pantheon. Eine breite Treppenanlage führt hinauf zu diesem imposanten Gebäude. In den Seitenflügeln warten auch hier reihenweise Skulpturen. Und auch auf dem etwas tiefer gelegenen Vorfeld. Es ist wie ein Ertrinken in all der Schönheit und deren langsamer Selbstzerstörung.
Aber auch jetzt ist dieser Friedhof bei weitem noch nicht komplett „erforscht“. Serpentinen winden sich den Berg hoch. Dazwischen wiederholt Haltestellen für einen kleinen Bus, der Trauernde und Besucher nach oben bringt. Zwischen den einzelnen Etagen findet man unzählige kleine Treppen und Treppchen. Teilweise versteckt hinter Büschen und Sträuchern. Nicht immer ersichtlich, ob diese nur zu einer Grabstätte führen oder auf die nächsthöhere Ebene. Beim Hinauf- und wieder Hinunterklettern verliert man schnell den Überblick. Zwischen all dem umwerfend schönen, teilweise sehr exotischen Bewuchs (Palmen und Feigenbäume und blühender Oleander beispielsweise) stehen richtige Paläste, spitze Türme, kleine Kathedralen, blockige Mausoleen, märchenschlossartige Formen. Häuser für Tote. Teils inklusive Dach- und Kellergeschoss. Sogar eine fast 30 Meter hohe Kopie des Mailänder Doms ist zu sehen. Atemberaubend. Einige weit offen stehende Türen laden zu einem Besuch ein. Die einst farbige Wand- und Deckenbemalung hat ihre Leuchtkraft verloren. Der Putz bröckelt von den Wänden. Mich beschleicht das Gefühl, der erste Besucher seit vielen Jahren zu sein. Schmale Treppen führen hinab in den dunklen „Keller“. Spinnengetiere haben den Zugang „gesichert“.
Doch die heimlichen Herrscher dieses Friedhofs sind nicht die steinernen Grabwächter, sondern die Katzen, die mir an unterschiedlichen Stellen über den Weg laufen. Scheu und misstrauisch beäugen sie mich. Für sie ist der Friedhof eine eigene Welt mit trockenen Unterkünften, sicheren Verstecken und Besuchern, die manchmal etwas Essbares in der Tasche haben.
Oder sind es doch die schwarz-weiß gestreiften, aggressiven Mücken, denen man immer wieder begegnet, weshalb sich das Mitführen eines Insektenschutzes als durchaus hilfreich bewiesen hat.
Zwei Tage habe ich auf dem Friedhof von Genua verbracht. Mein Kopf ist voller Figuren und Details. Viel habe ich gesehen. Und doch frage ich mich, ob meinen Augen wirklich nichts entgangen ist. Der Zweifel bleibt angesichts der überwältigenden Fülle von Sehenswertem. Düstere, seltsame, erotische, bombastische Darstellungen, mit denen sich die Reichen und Mächtigen ein Denkmal setzen wollten. Eine Ausnahme bildet das monumentale Grabmal der Nussverkäuferin Caterina Campodonico. Sie hat ihr Leben lang mühsam gespart, um sich als Marmor-Skulptur auf dem eigenen Grab verewigen zu können…
1882 inspirierte diese Nekropole Friedrich Nietzsche zu folgendem Gedicht:
O Mädchen, das dem Lamme
das zarte Fellchen kraut,
dem beides, Licht und Flamme,
aus beiden Augen schaut,
du lieblich Ding zum Scherzen,
du Liebling weit und nah,
so fromm, so mild von Herzen,
Amorosissima!Was riß so früh die Kette?
wer hat dein Herz betrübt?
Und liebtest du, wer hätte
dich nicht genug geliebt? –
Du schweigst – doch sind die Tränen
den milden Augen nah: –
du schwiegst – und starbst vor Sehnen,
Amorosissima?
Cimitero monumentale di Staglieno – der lustvolle Betrachter nehme sich Zeit. Viel Zeit…
3 Comments
[…] Der Joy-Division-Friedhof in Genua […]
Wunderbarer Bericht, was für ein Friedhof! Der ist schon einer der schönsten, die ich je gesehen habe, wenn nicht sogar der Schönste. Was Statuen angeht auf jeden Fall, so ein Gewimmel hat man ja sonst nie. Und ich dachte schon auf dem Zentralfriedhof in Wien waren es viele. Aber Genua toppt sie alle! Die italienischen Bildhauer waren auch einfach die besten, alles Marmor aus Carrara. Unglaublich und für einen Grufti die totale Überforderung, fand ich jedenfalls.
Die Statuen vom JD-Cover „Closer“ haben wir gefunden, aber nicht den gefallenen Engel. Kannst du dich noch erinnern, ob der in einem der Arkadengänge oder draußen war? Dafür haben wir die Statuen von Vomito Negro’s Album „Fall of an Empire“ gesehen (übrigens auch ein Musiktipp von mir für dich!).
Übrigens: Insektenschutz hilft gegen die Mücken des Todes auf diesem Friedhof nicht. Ich hatte mich am 2. Tag von Kopf bis Fuß mit Autan eingedieselt – es half nix. Sie waren weiterhin stark an mir interessiert und hatten ja auch genug Zeit zum Saugen, wenn ich zum Forografieren konzentriert stillstand.
Wir waren insgesamt 10h dort und denken, dass wir die interessanten Sachen alle gesehen haben. Aber komplett alles haben wir in der Zeit auch nicht geschafft. Es ist auch einfach überwältigend!
Oh ja. Ich denke, dass mich noch kein Friedhof so beeindruckt hat. Die Fülle an Skulpturen erscheint schier unendlich. Statuen, die auf anderen Friedhöfen als absolute visuelle Höhepunkte gelten würden, sind in Genua „normal“. Es ist einfach ein Fest für die Augen.
Der „JD-Engel“ (Grabmal der Familie Ribaudo) befindet sich im östlichen Arkadengang des Sektors B. Falls ein Plan gewünscht wird, lässt sich dieser sicherlich heraussuchen.
Wenn ich mich recht entsinne, sind es vor allen Dingen Asiatische Tigermücken, die das Blut der Friedhofsbesucher als Leckerei betrachten. Durchaus keine unansehnlichen Insekten, aber überaus nervig.