Am 16. Juli 1950 läuten die Kirchenglocken ein letztes Mal, ehe das gesamte Dorf Graun und ein Großteil des Dorfes Reschen in den Fluten eines Stausees, aus dem nur noch der einsame Kirchturm herausragt, untergingen. 163 Häuser wurden zerstört, über 500 Hektar Kulturboden überflutet, etwa 150 Familien verloren ihr Heim. Ein Verlust, der tiefe Wunden riss.
Bis zuletzt kämpften die Einwohner gegen die Pläne, die auf das Jahr 1920, als noch eine Stauhöhe von 5 Meter vorgesehen wurde, zurückgingen. Diese anfängliche Höhe hätte einen Großteil des Orts verschont. Doch im Jahr 1940 „informierte“ ein Aushang die Dorfgemeinschaft über das Anheben der ursprünglichen Anstauungshöhe auf 22 Meter. Das Arglistige daran: Die Information wurde einzig in Italienisch veröffentlicht. Eine Fremdsprache, die in Graun niemand verstand. So überrollten die Änderungen die Bürger. Man wehrte sich fortan mit allen Kräften gegen die Zwangsenteignung. Der Verlauf des zweiten Weltkriegs stoppte 1943 vorerst das Bauvorhaben. Aufzuhalten war es freilich nicht.
Ein Augenzeuge berichtete: „Graun liegt in den letzten Zügen. Wie bei einem Todkranken stirbt Glied für Glied ab. Tag für Tag dringt das Wasser weiter vor, Tag für Tag erdröhnen die Sprengungen, und sobald sich der Rauch verzogen hat, ist wieder ein Haus in sich zusammengesunken. Untergraun ist schon nicht mehr. Trümmer dort, wo einst Häuser standen. Auch das Schulgebäude ist bereits ein Schutthaufen. Ihm gegenüber steht noch die Kirche. An den Häusern, die noch stehen, sind überall die roten Striche zu sehen, die ankündigten, wie weit das Wasser steigen wird.“ Bereits 1949, als das Dorf nach wie vor bewohnt war, wurde ohne Vorwarnung eine Probestauung durchgeführt. Das Entsetzen beim Anblick des langsam in die Kellerräume eindringenden Wassers ist nur schwer vorstellbar.
Ein Großteil der Bevölkerung stand vor dem Nichts. Auf einen Realersatz oder zumindest eine ausreichende finanzielle Entschädigung hoffte man vergeblich. Die Vertreibung aus der Heimat ist ein Schicksal, das viele Dorfbewohner teilen, die zur Stillung des Energiebedarfs weichen mussten – weltweit. Oder ganz nah: In Deutschland wurde so manche Gemeinde dem Braunkohletagebau geopfert. Allerdings mussten die jeweiligen Unternehmen die Vertriebenen „angemessen“ – in Form neuer Häuser oder Wohnungen – entschädigen. Sogar Kirchen transportierte man in neu angelegte Dörfer.
Neben den zahlreichen Wohnhäusern, den Gaststätten und Geschäften betraf die Stauung ferner den kleinen, seit 1422 in Benutzung befindlichen Friedhof. Die Gebeine der Toten wurden ausgegraben und auf dem neuen Gottesacker beigesetzt. Doch nicht alle Kreuze und Grabsteine konnten gerettet werden. Vieles ging verloren. So auch ein Stein mit der folgenden, nicht ganz alltäglichen Inschrift:
Hier ruht mein Weib,
Gott sei´s gedankt.
Sie hat ihr Leben lang
mit mir gezankt.
Darum lieber Leser,
rat ich dir,
geh weit von hier
sonst steht sie auf
und zankt mit dir!
Die romanische Pfarrkirche St. Katharina in der Gemeinde Graun fiel hingegen der Sprengung zum Opfer. Einzig der 1357 eingeweihte Glockenturm blieb aus angeblichen Denkmalschutzgründen unversehrt (für manch Einheimischen wohl blanker Hohn) und bildet heute ein beliebtes Fotomotiv. Der 2009 restaurierte Turm spiegelt sich bildwirksam im See. Die traurige Vergangenheit voller persönlicher Schicksale bleibt unter den Wassermassen, Sand und Schlamm verborgen.
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