Als sich der kleine Zeiger meiner Armbanduhr bedrohlich* der Zahl Fünf nähert, Siouxsie in ihrer unverkennbaren Art und Weise über den Untergang einer Stadt singt, sich ein Teil der letzten etwa 50 Hartgesottenen im Takt des Rhythmus und zur Melodie der Gitarre über die große Tanzfläche bewegt, stelle ich fest, dass die auf ein Geländer abgestützte Haltung aufgrund des akut vorhandenen Schlafmangels wohl nicht so lässig wie gewünscht wirkt. Trotzdem fühle ich mich noch überaus munter und lasse die letzten Tage mit einem zufriedenen, auf andere vielleicht etwas irritierend wirkenden Lächeln gedanklich Revue basieren…
Mein Treffen begann – fast schon traditionell – mit dem Blick durch den Sucher meiner Fotokamera. Am Donnerstag wurden einige WGT-Gäste ins Neue Rathaus „eingeladen“, um sie ansprechend in Szene zu setzen und abzulichten. Vielfältige Persönlichkeiten – sowohl äußerlich als auch charakterlich. Neben diversen weiteren Erlebnissen ist dies immer ein persönlicher Höhepunkt. Doch gerne würde ich mir für jede/n Einzelne/n mehr Zeit nehmen. So unterschiedlich, so interessant, so sympathisch – und oft ähnlich denkend. Gleichgesinnt.
Der offizielle Teil begann hingegen traurig. Eigentlich sollten Bruno Kramm und Stefan Ackermann („Das Ich“) für Stimmung sorgen. Doch die Nachricht, dass der dämonisch wirkende Sänger schwer erkrankt ist, erzeugte einen unangenehmen Schauer auf dem Rücken. Musikalisch begleiten mich „Das Ich“ nun fast zwei Jahrzehnte. Als eine Art Mahnmal stand der dezent ausgeleuchtete und markante Mikrophonständer von Stefan Ackermann – selbstverständlich unbenutzt – im Hintergrund. Mit gesanglicher Unterstützung von Weggefährten wie Myk Jung und Oswald Henke lieferte Bruno Kramm einen trotz harter Rhythmen in gewisser Weise nachdenklichen und „stillen“ Auftritt ab. Stefan, ich wünsche Dir, dass Du bald wieder auf die Beine kommst…
Überaus gelungen fand ich den später stattgefundenen Auftritt von Henke, welche in erster Linie Titel von „Goethes Erben“ zum Besten gaben. Ebenso war es eine Freude, die lange verschollenen „Love Like Blood“ (1999 standen diese das letzte Mal vor Publikum) bei ihrem lange überfälligen Abschiedskonzert erleben zu können.
Die bereits erwähnten Fotoaufnahmen wurden am Freitag fortgesetzt. Die Entscheidung, welchen Programmpunkten man sich anschließend widmen sollte, fielen letztendlich leichter als gedacht. Die Konzerte von „Uni_form“ und „Soror Dolorosa“ wären sicherlich einen Besuch wert gewesen. Doch meine schon zwei Tage stark in Anspruch genommenen Füße skandierten lautstark und für mich unüberhörbar: „LE-SUNG…LE-SUNG!“ Und wie könnte man dem nicht nachgeben, wenn sich der Meister des Finsterwitzes – Christian von Aster – angekündigt hat? Die körperliche Belastung wurde hier allerdings nur verlagert. Die Füße bekamen ihre nachdrücklich geforderte Ruhepause, die Lachmuskeln und das Zwerchfell mussten hingegen durchgehend Schwerstarbeit leisten.
So folgten an den weiteren Tagen überaus hörenswerte Lesungen von Alexander Nym, Myk Jung & Klaus Märkert. Eine spontane aktive Beteiligung bei Erstgenannter habe ich geschmeichelt aber doch eindeutig abgelehnt. Rampenlicht? Nein danke.
Insgesamt beschränkte ich mich auf wenige Konzerte, die mir aber allesamt Freude bereitet haben: Front 242 (so manche junge Electro-Formation könnte sich von diesen alten aber keineswegs ruhigen Herren mehrere Scheiben abschneiden), Nitzer Ebb (herrlich schweißtreibend), Merciful Nuns (dunkel, intensiv, nicht von dieser Welt), Tying Tiffany (leidenschaftlich, frech, rotzig – aufgrund des kreischenden Organs sicherlich nicht jedermanns Sache) und Killing Joke… „Martin Glover – please come to the stage… your parents are waiting…“ tönte es am Sonntag aus den großen Boxen der Agrahalle, nachdem das „vom Band“ eingespielte Intro endete, ohne das die Band „Killing Joke“ die Bühne betreten hatte. Schön. Meine Phantasie wurde entsprechend angeregt. Wo mag der Bassist nur abgeblieben sein? Entsprechende Gedanken bezüglich eines misslungenen oder lang anhaltenden Toilettengangs möchte ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Auch der zweite Versuch, die Band während des Intros auf die Bretter, die die Welt bedeuten, zu bewegen, fiel negativ aus. Einzig ein Roadie stand extrem hilflos wirkend am Rand der Bühne. Doch irgendwann kamen sie dann doch… und wie… „Love Like Blood“, „Wardance“ oder „The Wait“ – grandiose Stücke der Musikgeschichte voller Energie und alles andere als gelangweilt wirkend dargeboten (wie so manch andere Band, die seit Jahrzehnten im Geschäft ist).
Letztendlich waren es aber die Gespräche, Diskussionen und Begegnungen mit netten, witzigen, intelligenten, liebenswerten Menschen, die das WGT 2011 so unvergesslich machen. So lud beispielsweise am Sonntag Robert vom Spontis-Blog Leser und Kommentatoren zu einem lockeren Treffen in den Schillerpark ein. Es war mir eine große Freude, den Herrn zu treffen, der mich mit seinem überaus lesenswerten Internetauftritt zu einem eigenen Blog animiert hat. Ebenso wie die Kommentatoren, die bisher nur ein virtuelles Gesicht hatten und deren Blogs ich in freien Minuten auch gerne besuche und mich an Geschriebenen und Gezeigten erfreue. Ein herrlicher Nachmittag, der unbedingt in ähnlicher Form (Pfingsten 2012?) wiederholt werden sollte.
Wie habe ich die Tage in Leipzig doch wieder genossen… Sicher: Stellenweise wirkt das WGT wie eine Freakshow, wie ein – ja: bunter – Karneval. Manches ist phantasievoll und durchaus sehenswert. Aber: Zwischen Verkleidungen, die auch nicht im entferntesten an Wave und Gothic erinnern, Knicklichtern, wildem Herumgefuchtel mit den oberen Extremitäten, für Unwissende als Industrial schlecht getarnter Techno und schrillen Neonfarben fühle ich mich – man mag es mir verzeihen oder auch nicht – einfach alles andere als wohl. Doch: glücklicherweise kann man diesem Teil des WGT sehr gut aus dem Weg gehen und eine grandiose Zeit verbringen, die ich so in keinster Weise missen möchte. Und so wurde jede Minute ausgekostet, jeder Eindruck aufgesaugt und gedanklich konserviert, so gut es geht. Dem dadurch scheinbar ins Unermessliche gesteigerten Schlafbedürfnis werde ich mich aufgrund der Arbeiten für das Pfingstgeflüster** aber noch nicht hingeben…
P.S.: Das Zimmer für den WGT-Aufenthalt 2012 ist bereits gebucht.
* Bedrohlich in Anbetracht der Tatsache, dass die vergangenen Nächte allesamt überaus kurz ausfielen, das Pensionszimmer in wenigen Stunden geräumt sein und anschließend auch noch eine Heimreise mit dem Pkw bewältigt werden muss.
** Lieber Robert, kurz zur Erinnerung: Es heißt nicht Pfingstbote, sondern Pfingstgeflüster. Der Pfingstbote ist das Programmbuch. Das Pfingstgeflüster hingegen der Rückblick auf das WGT 😉
5 Kommentare
Eigentlich und ehrlich gesagt halte ich nicht viel von persönlichen „So war mein Festival“-Berichten, weil sie meist stark ausufern und mir schnell langweilig werden da man selbst ja andere Bands, andere Situationen und eigene Eindrücke hatte die oft nicht „matchen“. Kommt aber immer drauf an, wie sie geschrieben sind. Aber deiner hat mir wirklich gut gefallen: angenehm kurz zusammengefasst, nicht zu detailliert und schön geschrieben. Sicher liegt es auch daran, dass ich dich nun auch persönlich kenne, Spontis Treffen sei dank. Schon deshalb ist es interessant.
Danke für das Kompliment. Ich kann Deine Eindrücke persönliche Festivalberichte betreffend gut nachvollziehen. Andere Bands, andere Situationen – manchmal ist man da einfach nur Außenstehender. Und Du hast auch damit recht: Wenn man hingegen die Person kennt, wird so ein Bericht deutlich interessanter, auch wenn man selbst andere Erlebnisse hatte.
[…] Mein WGT 2011 | Gedankensplitter hinter Glas »Als sich der kleine Zeiger meiner Armbanduhr bedrohlich* der Zahl Fünf nähert, Siouxsie in ihrer unverkennbaren Art und Weise über den Untergang einer Stadt singt, sich ein Teil der letzten etwa 50 Hartgesottenen im Takt des Rhythmus und zur Melodie der Gitarre über die große Tanzfläche bewegt, stelle ich fest, dass die auf ein Geländer abgestützte Haltung aufgrund des akut vorhandenen Schlafmangels wohl nicht so lässig wie gewünscht wirkt.« […]
Vielen Dank für die liebreizende Erinnerung an den richtigen Titel deines überaus lesenswerten Magazins. Ja, ich kann diese Erinnerungen gebrauchen, denn in der Tat bin ich meiner eigenen Verwirrung erlegen. Gelegentlich. Manchmal. Wie ich bereits in der Wochenschau erwähnte, ist dein Rückblick sehr eindrucksvoll, denn ich sah mich außer Stande ein ähnliches Programm auf die Reihe zu bekommen, was vermutlich an meiner mangelnden planerischen Fähigkeit liegen dürfte. Immerhin. Gute Vorsätze für das nächste Jahr habe ich bereits zurecht gelegt.
Gern geschehen. Falls gewünscht erinnere ich Dich jederzeit mit Freude wieder an den richtigen Titel.
Planerische Fähigkeiten sind eigentlich nicht großartig nötig. Zumindest plane ich einen WGT-Aufenthalt nicht wirklich. Natürlich ist eine Planung hinsichtlich des Pfingstgeflüsters unerlässlich. Aber wenn diese Arbeiten abgeschlossen sind, gestaltet sich das WGT in der Funktion des normalen Besuchers relativ spontan. Es ist aber sicherlich nicht von Nachteil, sich im Vorfeld über Autoren, Bands etc. informiert zu haben. Und auf Schlaf zu verzichten, ist ebenfalls hilfreich, ein größeres Programm bewältigen zu können 😉