Pfingsten. Leipzig. Wave-Gotik-Treffen. Wie so oft im Leben gibt es auch hier zwei Seiten. Scheinbar oberflächliche Menschen, die das WGT einzig besuchen, um sich außerhalb der offiziellen Karnevalszeit verkleiden zu können. Die den Bereich vor der Agra – dem „Zentrum“ der auf die ganze Stadt verteilten Veranstaltung – als Laufsteg nutzen. Menschen, mit denen man keine drei Worte wechseln möchte und die das mediale Bild als falsches Zerrbild prägen. Dem gegenüber steht an vielen Orten in Leipzig eine besondere Atmosphäre. Magisch, zauberhaft, ursprünglich, hin und wieder auch ein wenig rebellisch und: schwarz. Mit Menschen, deren Stimmen und Aussagen man gerne lauscht. Menschen, die man gerne betrachtet. Ein Gegenpol zur schrill-bunten Konsum- und Spaßgesellschaft. Glücklicherweise prägen die unterschiedlichsten Begegnungen mit Menschen der zweiten Gruppe das Bild meines WGTs.
Donnerstag: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen
Höhepunkte gab es zahlreich. So war es eine große Freude, am Donnerstag Nachmittag auf der Empore des Agra-Cafés einige meiner Bilder aufzuhängen und zu späterer Stunde und auch bei weiteren Aufenthalten im Café zu beobachten, dass sich eine nicht unwesentliche Anzahl von WGT-Gästen die Zeit nahm, sich auf die Bilder einzulassen, darüber zu diskutieren und die darunter platzierten Zitate zu lesen und nicht nur flüchtig am Präsentierten vorbeizueilen. Ob die Bilder bei dem einen oder anderen Besucher einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, wird sich – hoffentlich – zeigen…
Ausstellung auf der Empore des Agra-Treffen-Cafés
Freitag: Wiedersehen im Stadtbad
Frühes Aufstehen war Pflicht. Das ehemalige Stadtbad stand wie schon im Jahr 2008 als Rahmen für Fotoaufnahmen für das Pfingstgeflüster zur Verfügung. Ich erwartete einige Besucher, mit denen ich vorab Termine vereinbart hatte. Leider wartete ich auf den ersten Termin vergebens. Weder erreichte mich eine Absage, noch eine spätere Entschuldigung. Ein Ärgernis, das die weiteren Gäste, die ich im märchenhaften Ambiente des Stadtbads begrüßen durfte, jedoch durch ihren Einsatz, durch ihre netten Worte und ihr sympathisches Auftreten mehr als wettmachten. Besonders hervorheben möchte ich eine Besucherin, die trotz Unfalls im Vorfeld des WGT und Krücken bzw. Rollstuhl die geplanten Aufnahmen verwirklichen wollte – und verwirklicht hat.
Modelle im märchenhaften Ambiente der orientalischen Sauna des ehemaligen Stadtbads
Am Abend konnte ich mich dann – ziemlich geschafft, aber zufrieden – dem offiziellen WGT-Treiben „widmen“. Es dauerte nicht lange, bis mir bekannte Gesichter in die Arme liefen. Diese Unbeschwertheit, diese Wiedersehensfreude, diese fast etwas unheimliche Vertrautheit beim Treffen so mancher virtuellen Bekanntschaft, so manchem eigentlich „Unbekannten“ zog sich wie einer roter Faden durch die weiteren Tage. Unbekümmerte Gespräche als würde man sich schon jahrelang kennen. Irgendwie unerklärlich.
Samstag: Der Weg zum ÜberGoth
Auch der Samstag begann relativ früh. Sollte doch die Lesung des Meisters des Finsterwitzes – Herr Christian von Aster – beehrt werden. Diesen Plan fassen während des WGT allerdings so einige andere, weshalb frühzeitiges Erscheinen unerlässlich ist. So war es kein Problem, eines der begehrten Billets, die den Einlass gewährleisteten, zu ergattern. Bevor den Worten des mitreißenden Autors gelauscht werden konnte, stand allerdings noch die Wartezeit in einem mit der Zeit zunehmend vom überlebenswichtigen Sauerstoff befreiten Bereichs. Aber – wie nicht anders zu erwarten – hat es sich gelohnt. Begeisterung löste beispielsweise die traditionelle astersche WGT-Grufti-Geschichte aus: Dunkelblau oder Der lange Weg zum Übergoth. Wie schon in den Jahren zuvor, als ich unter dem Einfluss der asterschen Geschichte stehend beispielsweise im Schaufenster eines Kostümverleihs unweit des Felsenkellers nach Gothic-Verkleidungen Ausschau hielt und jeden an mir vorbeieilenden Schwarzgekleideten unter Generalverdacht stellte, ein verkleideter Hip-Hopper zu sein, begleitete mich auch diese Geschichte über die restlichen Tagen des WGT. Obwohl ich das Vergnügen hatte, den Text schon im Vorfeld lesen zu dürfen, war es ein Hochgenuss, ihn aus dem Mund des Autors selbst zu hören. Die Mimik, die Betonung, die Stimme, und natürlich die Reaktionen der anwesenden Zuhörer (Szenenapplaus bei einem Seitenhieb auf die im Saal wohl nicht vertretene Knicklichtfraktion) – einzigartig. Aster spielte mit den Worten und ließ sich von der Welle der Begeisterung im Auditorium tragen. Seine Formulierungen provozierten Lachtränen. Und – hätte man nicht in fest installierten Kinosesseln Platz genommen – wäre das Umfallen mitsamt Stuhl bei einer Wahrscheinlichkeitsrechnung sicher mit einem hohen Wert eingestuft worden. Nunmehr versehen mit Detailwissen, wie man sich zum 110prozentigen Übergoten entwickeln könnte, wurden nach der Rückkehr in die Unterkunft auf Zeit zuerst Socken aussortiert, deren tiefstes Schwarz regelmäßigen Waschmaschinendurchläufen zum Opfer fiel. Denn manchmal ist schwarz nicht dunkel genug…
Es folgten Besuche der Ausstellungen „Als der Südfriedhof unser Wohnzimmer war“ und „Boten des Todes“, die zeigten, dass das Bild, welches sich bei einem Besuch des Agra-Laufstegs ergibt, nur ein kleines, keineswegs repräsentatives Puzzleteilchen des WGTs ist. Das Interesse an der Ausstellung im Stasimuseum war überwältigend. Die Verantwortlichen waren begeistert, hatten sie doch mit diesem Zuspruch nicht im Geringsten gerechnet. Schon am Samstagnachmittag konnte man vierstellige Besucherzahlen verzeichnen. Zugegeben: Die Massen haben mich davon abgehalten, mich in aller Ausführlichkeit dem Thema „Stasi-Bespitzelung von Gruftis in der ehemaligen DDR“ zu widmen. Doch schon das wenige Gelesene lässt an einem gesunden Menschenverstand der Stasi-Mitarbeiter zweifeln. Eine Mischung aus ungläubigem Kopfschütteln und Lachen war die Folge. Dass beispielsweise „Gruftys“ sogar des Aushebens von Gräbern beschuldigt werden, war mir bis dato neu.
Und auch hier liefen mir – wie an allen Tagen – nette bekannte Gesellen in Schwarz über den Weg, deren Begegnung und die damit verbundene Plauderstunde jeden Zeitplan über den Haufen geworfen hätte. Glücklicherweise sind mir Spontaneität und der Austausch von Gedanken beim WGT wichtiger als zeitliche Vorgaben und Abläufe.
Der düstere Titel – „Boten des Todes“ – machte natürlich neugierig. Zuerst einmal hieß es jedoch, das „Schwarz 10“ zu finden, wo die Ausstellung stattfinden sollte. Die Nutzer des ÖPNV waren hier wohl deutlich im Vorteil. Zumindest hat die in Leipzig vorherrschende Bauwut das Navigationsgerät, welches mich zum Ziel geleiten sollte, komplett überfordert. Ich höre noch heute die – wie ich meine – zunehmend hysterischere Stimme, die mich in immer kürzerer Zeitfolge zum Links-, dann zum Rechtsabbiegen und anschließend zum Wenden aufforderte. Mittels altmodischer Karte fand sich dann aber doch ein weiträumiger Weg durch das Labyrinth von Umleitungen, Einbahnstraßen und hunderten Hinweis- und Verbotsschildern. Durch einen schweren schwarzen Vorhang geschützt betrat ich über den Eckeingang das alte Gebäude. Einladend ein Brunch zur Linken und entgegeneilend eine freundliche junge Dame, die den Weg zur Ausstellung wies. Zuerst wurde aber der alte Hausflur mit tollem Stuck an der Decke bewundert. Ebenso die alten Treppengeländer. Der Charme eines scheinbar leerstehenden Gemäuers machte sich breit. Vorbei an diversen Wohnungstüren bis in das Dachgeschoss. Das privat initiierte Projekt präsentierte sich überaus professionell. Texte zweisprachig in Deutsch und Englisch. Multimedia eingebunden. Die Ausstellung konzentrierte sich auf Krähenvögel und den Totenkopfschwärmer. Detailliert von biologischen und geschichtlichen Standpunkten aus betrachtet ist der Rundgang zwischen dem Gebälk des Dachstuhls untergebracht. Neue Erkenntnisse wurden gewonnen: Der Totenkopfschwärmer kann Geräusche von sich geben? Seltsam. Und überraschend. Und auch hörbar über Kopfhörer. In der morbiden Atmosphäre von altem Holz, Dachziegeln und knarrendem Dielenfußboden tauchte man ein in eine Welt zwischen Realität und Aberglauben. Sprechende Schmetterlinge? Die wissenschaftlichen Erklärungen, warum sie als Boten des Todes betrachtet wurden, sind schlicht und doch erstaunlich. Welche Legenden doch Unwissenheit so hervorbringen. Ebenso interessant: die Krähenvögel. Meine Allgemeinbildung stieß früh an ihre Grenzen. Neues Wissen wurde aufgesaugt. Spannend. Und die Macher der Ausstellung: bescheiden, voller Enthusiasmus und mit einer beeindruckenden Begeisterung.
Tonspur: Southern Death Cult – Crow
Ausstellung „Boten des Todes“ (Foto: Ray Montag)
Warsaw, DAF, The Exploding Boy, The Cure, Einstürzende Neubauten, Ideal, Sisters Of Mercy und und und – eine nahezu perfekte musikalische Mixtur, um den Tag ausklingen zu lassen. So waren – zumindest an zwei Abenden, oder besser gesagt: Nächten – auch in diesem Jahr die When-We-Were-Young-Partys im Werk II Pflicht. Bewundert bestaunte ich hoch aufgetürmte Iros in schwarz, blond, blau oder rot. Manche schienen riesig zu sein. Ich grübelte, wie man diese wohl auf einer Porträtfotografie zur Geltung bringen könnte… Dazwischen Brigitte Handley, Sängerin und Gitarristin von „The Dark Shadows“ und zwei Jungs von „The Exploding Boy“, die ebenfalls sichtlich ihren Spaß hatten und deren Auftritte meine musikalischen Höhepunkte waren. Auch wenn „The Exploding Boy“ sichtlich ihre Schwierigkeiten hatten, sich mit dem allzu grellen Tageslicht anzufreunden.
Sonntag: Zwischen Paparazzo-Alarm und Bi-Ba-Butzemann
Am nächsten Tag stand noch ein Fotoshooting mit zwei Besuchern auf dem persönlichen Programm. Als Location hatte ich den Südfriedhof gewählt, da dieser abseits aller Klischees diverse schöne Ecken bietet, die auch wetterunabhängig sehenswerte Aufnahmen garantieren. Leider hatte ich das Phänomen der Paparazzo so gar nicht bedacht. Der zentrale Treffpunkt an den Trauerhallen war gänzlich ungünstig gewählt. Schon vor der Begrüßung des auffällig gekleideten und geschminkten Paars stürzten sich die ersten Fotografen auf die beiden. Nach einer Weile konnte man dann doch endlich einige einleitende Worte wechseln und sich ans Werk machen. Der Säulengang bietet einen herrlichen Hintergrund. Doch die im Schlepptau befindliche Fotografenmeute ließ ein entspanntes Arbeiten nicht zu. Durch die Flucht in die dichte Vegetation des Parkfriedhofs änderte sich dies nur bedingt. Selten konnten wir ungestört dem eigentlichen Sinn unseres Treffens nachgehen. Liebe „Kollegen“, euer Verhalten solltet ihr vielleicht einmal überdenken. Auch auffällig zurecht gemachte WGT-Besucher sind kein fotografisches Freiwild. Zurückhaltung, Höflichkeit, Respekt und Anstand würden so manchem Knipser gut zu Gesicht stehen.
Und wie sollte es anders sein: Auch dieser Tag stand ganz unter dem Einfluss der Begegnungen mit Menschen, denen man sich trotz aller Flüchtigkeit der Bekanntschaft sehr verbunden fühlt. So war einer der wenigen fest eingeplanten Termine das Spontis-Treffen auf einer Wiese in Nähe der Moritzbastei. Trotz Ruheplatzsuche für den mobilen Spritfresser traf ich nur mit einer unwesentlichen Verspätung ein. Inmitten einer größeren Lagergemeinschaft entdeckte ich mir bekannte Gesichter. Einige besetzten Picknick-Decken. Die kreisförmige Anordnung ließ mich weit in Kindheitstage zurückdenken: „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum, dideldum…“ Nun gut, ich besann mich eines besseren und rannte nicht wie wild mit dem Kinderreim auf den Lippen um die entspannt wirkende Gemeinschaft, in dessen Mitte ein zufriedenes Baby saß. Der schwarze Nachwuchs. Ein lautes Hallo flog mir entgegen, dass ich meinerseits mit einer freundlichen alle umfassende Geste erwiderte. Die eigene Decke wurde dieser Lagerstatt hinzugefügt, Gebäck und Schokolade ins Rund geworfen. Ein Wohlgefühl von Beginn an. Sabrina und Robert, die obersten Spontisianer, sorgten wie vorbildliche Gastgeber für die Kreuz-und-Quer-Kontaktaufnahme. Man sprach über das WGT, das Ausufernde und das Angenehme, persönliches Befinden, Konzert-Erlebnisse, Pläne… als würde man sich regelmäßig und nicht nur einmal im Jahr treffen. Eine seltsame und wunderbare Verbundenheit.
Montag: Kerzenschein und Abschiedsschmerz
The Exploding Boy am Montag Nachmittag auf der Parkbühne
Quelle: Youtube
Nach diversen genussvollen Konzerten auf der Parkbühne folgte der mitternächtliche Abbau der Ausstellung, der die ersten wehmütigen Gefühle aufkommen ließ. Schließlich spürte man überall schon eine gewisse Aufbruchstimmung. Doch davon einigermaßen unbeeindruckt sollte der erstmalige Besuch der legendären und geheimnisvollen „Blauen Stunde“ als ein würdevoller Ausklang dienen. Keine offizielle WGT-Veranstaltung. Zurück zu den Wurzeln. Ohne Eintritt. Ein Buffet, das jeder einzelne Gast nach Lust und Laune mitgestalten kann. Und von dem sich jeder bedienen kann. Behutsam betraten wir die unscheinbare Toreinfahrt, aus der gerade zwei Schwarzgewandete traten. Hier waren wir also richtig. Rote Grablichter wiesen den Weg. Auf dem kleinen Hof hinter dem scheinbar leerstehenden Haus drängten sich die Besucher. Offenes Feuer in einer Tonne beleuchtete flackernd ihre Gesichter. Festliche Gewandungen sind mehr zu erahnen als zu erkennen. Eine schmale Tür führt uns ins Innere des Hauses. Ehemals ein Wohnhaus, irgendwann für kommunale Gesundheitsdienste eingerichtet. Kerzen über Kerzen. Auf Leuchtern, am Boden, auf Simsen. Gedämpfte Unterhaltungen, leise, getragene Musik. Das Gefühl, hier etwas „Verbotenes“ zu tun, verflüchtigt sich schnell und weicht einer angenehmen Stimmung. Das Kommen und Gehen der Menschen im weichen, warmen Kerzenschein ist unwirklich und doch selbstverständlich. Erfreut erkenne ich bekannte Gesichter. Man wechselt Worte und gibt sich der scheinbar sanft fließenden Zeit hin. Die Möglichkeit, mit den Initiatoren zu sprechen, lasse ich mir nicht entgehen. Mit viel Leidenschaft stellen diese „die Blaue Stunde“ auf die Beine – auch an anderen Orten, auch zu Nicht-WGT-Zeiten. Unterstützt von Freunden, die eine Zuflucht bieten. So wie Haus und Hof an diesem Tag. Es sind Idealisten – durch und durch. Sie leben mit Gleichgesinnten aus, was dem Ursprünglichen der Szene gleicht. Alternativ, unkommerziell. Treffen und sich austauschen. Als ich mich auf den Heimweg mache, habe ich das Gefühl, eine Familienfeier zu verlassen…
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[…] Zwischen todbringendem Federvieh und der Erkenntnis, dass schwarz manchmal nicht dunkel genug ist | Gedankensplitter hinter Glas “Pfingsten. Leipzig. Wave-Gotik-Treffen. Wie so oft im Leben gibt es auch hier zwei Seiten. Scheinbar oberflächliche Menschen, die das WGT einzig besuchen, um sich außerhalb der offiziellen Karnevalszeit verkleiden zu können. Die den Bereich vor der Agra – dem „Zentrum“ der auf die ganze Stadt verteilten Veranstaltung – als Laufsteg nutzen. Menschen, mit denen man keine drei Worte wechseln möchte und die das mediale Bild als falsches Zerrbild prägen. Dem gegenüber steht an vielen Orten in Leipzig eine besondere Atmosphäre. Magisch, zauberhaft, ursprünglich, hin und wieder auch ein wenig rebellisch und: schwarz.“ […]
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