Original: Rio Reiser
Ich habe noch nie jemanden in Deutschland singen gehört und gesehen, der wie Rio in der Lage war, innerhalb von Sekunden eine intime Beziehung, geradezu eine Liebesbeziehung, mit jedem einzelnen seiner Zuhörer aufzubauen.
Singen vor Publikum ist eine eigenartige Beschäftigung: Man kann das Blut, das man den Menschen entzieht, wie ein Vampir schlucken, oder man kann es verwandeln und zurückgeben.
Rio Reiser strahlte Kraft und Macht aus, die er vom Publikum bekam, und er gab sie wieder zurück. Charisma ist eine Fähigkeit, die sich nicht erlernen lässt, und sie hat nichts mit Image und bloßer Bühnenpräsenz zu tun. Selbst bei einem banalen Song konnte er irgendein bestimmtes Wort so singen, dass es einem kalt den Rücken runterlief.“Nachruf von Blixa Bargeld (Einstürzende Neubauten) im Spiegel
Als ich mich noch von Babybrei ernährte, die Welt vollkommen unkritisch mit großen, leuchtenden Augen betrachtete und meine Freizeitgestaltung aus Schlafen und Verdauen bestand, hatte Ralph Christian Möbius – so der bürgerliche Name von Rio Reiser – mit der Band „Ton Steine Scherben“ schon erste Erfolge. In den Anfangsjahren lieferte man mit Titeln wie „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ (1970) und „Keine Macht für Niemand“ (1972) den rockigen Soundtrack für radikale Linke, Autonome, Hausbesetzer und Anarchisten.
Sein Künstlername, welchen er mit 18 annahm, ist eine Anlehnung an die Romanfigur Anton Reiser. Der vierteilige psychologische Roman von Karl Philipp Moritz – erschienen zwischen 1785 und 1790 – ist die Biografie eines begabten, um Anerkennung bemühten Jugendlichen, welcher der kleinbürgerlichen Welt seiner Eltern entkommen möchte.
Später widmeten sich „Ton Steine Scherben“ zunehmend zwischenmenschlichen Themen. 1985 war die Band finanziell am Ende, was die Auflösung zur Folge hatte. Schon ein Jahr später erschien die erste (und erfolgreichste) Soloplatte des „neuen Königs von Deutschland“.
Politisches Engagement begleiteten Rio Reiser trotz der Abkehr von radikalen Aussagen weiterhin. So stellte er 1987 den Grünen den Titel „Alles Lüge“ für ihren Wahlkampf zur Verfügung. Ebenso sprach er sich gegen Atomenergie aus. Später (1990) wurde er Mitglied der PDS.
1988 trat er in der noch existierenden DDR auf, wo er ferner Ton-Steine-Scherben-Klassiker zum Besten gab. Das Konzert wurde aufgezeichnet und ausgestrahlt. Allerdings verzichtete man dabei auf den Titel „Der Traum ist aus“. Der Staatsmacht und seinen ausführenden Organen muss es damals ziemlich missfallen haben, dass unzählige DDR-Bürger die folgenden Textzeilen, welche eigentlich dem anderen Teil Deutschlands gewidmet waren, leidenschaftlich und lautstark herausschrieen:
Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? (…) Ich weiß es wirklich nicht – Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher: Dieses Land ist es nicht!“
Wenn man solche und ähnliche nachdenkliche oder provokant-kritische Worte liest, mag man gar nicht glauben, dass Rio Reiser scheinbar ein gewisses Faible für Schlager hatte. So schrieb er Texte für Marianne Rosenberg, welche er anlässlich eines Konzerts gegen Ausländerhass auch live am Klavier begleitete (wobei hier das oben angesprochene Stück „Der Traum ist aus“ dargeboten wurde).
Wenige Monate vor seinem Tod am 20. August 1996 schrieb er folgende Worte:
Nehmt mir die Krone ab, die mich erdrückt, nehmt mir die Krone weg, nehmt sie zurück. Ich weiß, irgendwo ist da ein Licht, doch ich kann euch nicht führen, denn ich weiß den Weg nicht.“
(aus dem Song „Hoffnung“)
„Menschenfresser“ wurde bereits 1976 von „Ton Steine Scherben“ live gespielt, aber erst 1985 für sein erstes Album als Solokünstler im Studio aufgenommen. Hier leider nur eine Live-Version:
Kopie: Melotron
Die 1995 im Osten Deutschlands gegründete Synthie-Pop-Band „Melotron“ veröffentlichte ihre elektronische Interpretation – welche mir im Übrigen je nach Stimmungslage nicht minder gefällt als das Original – auf dem Album „Cliché“ im Jahr 2005.
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