Der Film „Poll“ läuft seit dem 3. Februar 2011 in den deutschen Kinos. Während der Hofer Filmtage im Herbst letzten Jahres hatte ich vorab die Möglichkeit, diese besonderen 133 Minuten zu sehen. Und aufgrund meiner Begeisterung habe ich es mir nicht nehmen lassen, bei T-Arts die folgende Rezension zu veröffentlichen:
Der Fim erzählt die Geschichte eines 14-jährigen Mädchens – durch den Tod der Mutter herausgerissen aus der bekannten Berliner Umgebung – welches sich in einer fremden Welt zurechtfinden muss. Begleitet von dem Leichnam ihrer Mutter reist die junge Oda von Siering im Sommer 1914 an die baltische Ostseeküste zum Vater, einem etwas absonderlichen Arzt und Hirnforscher. In der abgeschiedenen Provinz lebt der Vater gemeinsam mit seiner Familie, seiner neuen Frau, ihrem Sohn und einigen Angestellten in einem märchenhaften, aber etwas heruntergekommenen Gebäude, welches von Steinsäulen gesäumt wird. Auf Pfählen stehende „Anbauten“ aus Holz erweitern das Haus. In einem der Nebengebäude geht er seinen Studien nach. Dabei seziert der Wissenschaftler Leichen, die er von russischen Einheiten, die er wiederholt beherbergt, kauft. Eines Tages findet die oft in sich zurückgezogene Oda auf dem Anwesen einen schwer verwundeten estnischen Anarchisten. Obwohl es für sie und ihre Verwandten dramatische Folgen haben könnte, entscheidet sie sich, ihn zu versorgen und zu verstecken. Der Fremde – ein Autor, den sie nur „Schnaps“ nennt – hilft ihr, ihre schriftstellerischen Ambitionen zu verbessern. Oda möchte aus dem ungeliebten Dasein ausbrechen und gemeinsam mit dem Anarchisten, der für sie eine Stütze darstellt, fliehen. Am Ende geht es um Leben oder Tod…
Die Dichterin und Journalistin Oda Schaefer inspirierte den Regisseur und Drehbuchautoren Chris Kraus („Vier Minuten“) zu diesem außergewöhnlichen Film:
Ich bin auf diese Schriftstellerin vor Jahrzehnten während meines Germanistikstudiums gestoßen. Zu meiner großen Überraschung stellte sich damals heraus, dass sie meine Großtante war, mit Mädchennamen Oda Kraus hieß und in meiner Familie wegen ihrer angeblich kommunistischen Gesinnung nicht erwähnt werden durfte. Sie wurde totgeschwiegen, galt als inopportun, weil sie als eher linksintellektuelle Autorin in meine in Teilen nationalsozialistisch geprägte Verwandtschaft nicht hineinpasste. Schon damals hat mich beschäftigt, wie es meiner Tante, die ich persönlich nie kennen gelernt hatte, gelungen war, trotz ihrer Herkunft einen so radikal unabhängigen Weg einzuschlagen, den Weg der Selbstdefinition, der den Bruch mit einem Großteil ihrer Familie zur Folge hatte. Ich glaube, dass für mich diese erste, vor über zwanzig Jahren gestellte Frage immer noch den Kern des Filmes bildet: Wie finden wir zu uns selbst, wenn die Welt uns anders gemeint hat? Welchen Preis bezahlt man für eine Emanzipation, die nicht gewährt wurde und niemals verziehen wird?“
Zu Missverständnissen könnte eine Einblendung, mit welcher darauf hingewiesen wird, dass der Film auf wahren Begebenheiten beruht, führen. Die Erzählung bewegt sich durchaus in einem historisch belegbaren Rahmen. Auch der Charakter der Oda von Siering entspricht wohl dem der in heutigen Tagen fast vergessenen Schriftstellerin. Die fesselnde Haupthandlung ist aber fiktiv.
Der Film besticht unter anderem durch seine erstklassigen Schauspieler. Man mag gar nicht glauben, dass die erst 14-jährige Paula Beer (ausgewählt aus über 2500 Kandidatinnen) bisher kaum Schauspielerfahrungen sammeln konnte (einzig im Jugendensemble des Berliner Friedrichstadtpalasts). Oda ist ihre erste große Kinorolle.
Eindrucksvoll ist auch die Leistung von Tambet Tuisk (in der Rolle des „Schnaps“), der eigens für diese Rolle Deutsch lernte. Der ehemalige Handball-Nationalspieler ist einer der bekanntesten estnischen Schauspieler.
In weiteren Rollen brillieren u.a. Edgar Selge („Rossini“, „Polizeiruf“), Richy Müller („Die Apothekerin“, „Die innere Sicherheit“, „Tatort“) und Jeanette Hain („Der Vorleser“, „Die Frau des Architekten“), die allesamt ausgezeichnet und unaufdringlich ihre jeweiligen Charaktere verkörpern und darstellen.
O denk daran! Der Tod ist wie ein Kern
In dir und deinem Tagewerk verborgen,
Wie Haselnuss und heller Apfelstern,
Wie Pflaumensamt ihn einhüllt bis zum Morgen,
O denk daran, es nützt dir keine Flucht,
Er lebt in dir wie in der süßen Frucht.“(Auszug aus dem Gedicht „Gedenke des Todes“ von Oda Schaefer)
Auf dem Gut Poll ist der Tod in gewisser Weise allgegenwärtig – ob in Form der russischen Soldaten oder dem Labor des Vaters, in welchem zahlreiche Schädel und in Gläsern konservierte Leichenteile lagern – und spielt somit auch eine Hauptrolle.
Der Film imponiert durch die perfekte Symbiose aus beeindruckenden Kulissen (das komplette Set mit dem phantastischen Herrenhaus im Palladio-Stil als auch allen Nebengebäuden wurden extra in einem Naturschutzgebiet in Estland aufgebaut), atemberaubenden Bildern (eindrucksvoll ist u.a. die russische Reiterschar, welche bei tiefstehender Sonne in Formation durchs flache Wasser jagen, aber noch viele weitere stimmungsvolle Bilder zeichnen den Film aus), den bereits erwähnten erstklassigen Schauspielern, bestens ausgearbeiteten Dialogen und meisterhaft abgestimmter Musik.
Poll. Ein Meisterwerk.
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