Etwa vor eineinhalb Jahren strahlte der Sender ARTE eine Reihe über Jugendkulturen der 80er Jahren des letzten Jahrhunderts aus. Durch Zufall bin ich im Netz nun über die Folge gestolpert, welche die dunkle Subkultur thematisierte. Im Gegensatz zu reißerischen, allzu oberflächlichen und verzerrten Darstellungen diverser anderer Sender, welche einem das Grauen lehren, ist den Machern hier durchaus ein schönes Stück Zeitgeschichte ohne Anspruch auf Vollständigkeit gelungen:
Willkommen in den 80ern. Den anderen 80ern, wo es nicht um Charts, Schick und Geld verdienen geht, sondern um Wut, Zweifel und Aggression.“
Im Mittelpunkt steht die Musik. So berichten u.a. Jaz Coleman (Killing Joke), Anja Huwe (X-Mal Deutschland), Darin Huss (Psyche), Mona Mur, En Esch (KMFDM) und Richard H. Kirk (Cabaret Voltaire) rückblickend vom Flair dieses legendären Jahrzehnts, der eigenen Beweggründe, der Motivation, der Wut und der Wahrnehmung der Welt:
Ich glaube, es ist eine Geisteshaltung. Keine Todesbesessenheit, aber ein Bewusstsein für die Sterblichkeit des Menschen. Ängste und die Fähigkeit, das auszudrücken, in Worte zu fassen. Das wäre meine Definition von Gothic.“
Darin Huss (Psyche)
Die generellen 80er Jahre, also die waren eine abstruse Mischung aus kalter Krieg und jeden Tag Angst haben vor dem Atomkrieg und gleichzeitig diese Partywelle, diese Farben, dieser absolute Kommerz.“
Tom Gabriel Fischer (Celtic Frost)
Um die Gegensätze zur bunten Konsum- und Spaßgesellschaft zu veranschaulichen, kommt auch die geliftete „Aerobic-Queen“ Sydne Rome zu Wort, welche u.a. „Tokio Hotel“ mal eben wohlgelaunt in die Gothic-Ecke einordnet.
Pure Freude bereiten hingegen neben aktuelleren Aufnahmen die teils drei Jahrzehnte alten und eigentlich viel zu kurzen Archivaufnahmen von X-Mal Deutschland, Psyche und anderen.
„Welcome to the 80s“ ist auch ein lehrreiches Stückchen bewegter und vertonter Bilder. Zeigt es doch dem Teil der jungen Generation, welche Neonfarben und Knicklichter für sich entdeckt hat, dass „Industrial“ ursprünglich nicht auf eine hohe Zahl von Beats per Minute und plumper Provokation reduziert wurde. Provokation, welche einzig aus dem F-Wort zu bestehen scheint und heutzutage eher an pubertierende Teenager denn an rebellierende bzw. kreative Künstler erinnert.
Und so wird ferner der Blick auf das Heute nicht ausgespart. Der Sprecher kommt dabei zu der Erkenntnis, dass in der Szene alle nett sind und sollte der Teufel doch dabei sein, hat er sich wohl gut verkleidet. Die Frage, was von der Kompromisslosigkeit geblieben ist, wird sogleich selbst beantwortet:
Zum Beispiel desillusionierte Vordenker.“
Was die Aussage von Richard H. Kirk (Cabaret Voltaire) untermauern soll:
Alles ist gemacht worden.“
Auch kritische Worte bezüglich der zunehmenden Kommerzialisierung fehlen nicht:
Das ehemals Neue, Wilde und Wütende macht niemandem mehr Angst. Es lauert ja nur in der Schaufensterauslage.“
Nachtrag:
Wie ich gerade entdeckt habe, hat sich Robert vom Spontis-Blog 2009 den ersten Folgen der Reihe „Welcome to the 80s“ angenommen. Ebenso nostalgisch und sehenswert:
3 Comments
Bei Sydney Rome hat es bei mir geklingelt, dass ich die Reportage schon gesehen habe. Das war damals bei „Summer of the 80s“ und wirklich ganz gut gemacht. Ich meine die Folge zu Synthie Pop & New Romantic war noch besser – oder es war gerade umgedreht. Aber Daren Huss‘ Worte kann ich absolut unterschreiben. Sehr schön gesagt.
Puh…wieder so eine Reportage,bei der man gefühlsmäßig in die Vergangenheit geschleudert wird. Es ist für Szenemitglieder der ersten Generation ohnehin schwierig, heute noch Parallelen zu früher zu entdecken oder auch nur ein einigermaßen „heimatliches“ Gefühl auf Gothic Festivals zu entwickeln. Es hat sich halt viel geändert.
Nach solchen Reportagen wird einem einmal mehr deutlich, wie groß der Unterschied zwischen der Szene früher und heute ist. Mona Mur hat es gut ausgedrückt: „Man konnte diese Spuren im frischgefallenen Schnee selbst setzen.“
Ich möchte ergänzen: Heute sind die Wege ausgetrampelt, am Wegesrand stehen Händler und Imbissbuden und allüberall sieht man Leute, die im sicheren Umfeld der befestigten Straße in teuren Kostümen vermeintlich „individuell sein“ üben. Nicht alle natürlich, aber ein großer Teil der Menge.
Was mich an der Reportage gestört hat ist der Begriff „Gothic“, der auch in den Teilen über die 80er Jahre benutzt wird. Ich habe diesen Begriff in den 80ern niemals gehört. Waver, Gruftis – ja. Gothic – Nein. Die Gegenüberstellung Sydne Rome/Aerobic/Tokio Hotel und echter Underground war jedoch ein Geniestreich der Autoren.
Vielleicht interessiert in diesem Zusammenhang auch mein (persönlich gefärbter) Artikel über die Jugendszene der 80er. Einige Teile der hier veröffentlichten Reportage finden sich auch in den Videos wieder, die ich dazu ausgegraben hatte.
http://www.sabrina-kirnapci.com/jugendszene-der-80er-jahre
Ja, die Wege sind ausgetrampelt und – man muss es zugeben – heute ist es gar nicht so einfach, individuell zu sein. Ich stelle mir schon hin und wieder die Frage, ob man noch etwas Neues erwarten darf. Wirklich Überraschendes und Neuartiges hat Seltenheitswert – sofern man heutzutage im subkulturellen bzw. künstlerischen/musikalischen Bereich überhaupt noch richtig überrascht werden kann. Vieles wiederholt sich. Was nicht grundsätzlich schlecht ist. Mir sind beispielsweise Musiker lieber, die sich auf die Ursprünge des Post Punk oder des EBM berufen, als „Musiker“ (besser gesagt: Softwarebenutzer), die eintönigen und – zumindest nach meinem persönlichen Empfinden – niveaulosen Techno produzieren.
Nun weiß ich auch, woher ich den einen oder anderen Ausschnitt kannte. Einen Teil der Pop-2000-Reportage scheine ich damals gesehen zu haben.