Erinnerungen aus dem Jahr 2006
Wien ist anders.
Man spricht zwar Deutsch, aber so mancher deutschsprachige Tourist und Zugereiste reibt sich verwundert die Ohren, wenn er in eines der zahlreichen und leicht herbeigeführten Gespräche mit einem Einheimischen gerät. „Ich muss jetzt wirklich mal ausrasten!“ – Erschrocken sucht der Auswärtige nach den Gründen, warum der Gesprächspartner so plötzlich die Contenance verlieren mag. Und findet selbstverständlich keine. Kommt ausrasten doch von dem Wort Rast und bedeutet letztendlich nichts anderes als „ausruhen“. Buh, noch mal Glück gehabt. Man kennt ja die Gepflogenheit eines so exotischen wie fremden Völkchens, wie es die Wiener nun mal sind, nicht wirklich. Sollte eine Kellnerin einmal fragen, ob man bedient sei, nimmt sie natürlich nicht an, dass der Gast die sprichwörtliche Schnauze voll hätte aufgrund des schlechten Services. Weitere ähnlich geartete Doppeldeutigkeiten können einen Wienaufenthalt zu einem amüsanten wie auch verwirrenden Erlebnis werden lassen. Manche Wortwahl lässt hingegen viel Spielraum – sind manche Wortschöpfungen doch in keiner Weise zu ergründen. Gerade Besucher aus dem nördlichen Teil der bundesdeutschen Republik dürften hier so ihre Probleme haben. Große virtuelle Fragezeichen sind fast vorprogrammiert. Ist der Wiener in seiner ganzen Art doch ein eher gemütlicher Zeitgenosse, der von Hektik und Stress ganz und gar nichts hält, kann er beim Sprechen urplötzlich auch schon mal einen Zahn zulegen. Verständlicher macht es die Angelegenheit selbstverständlich nicht.
Wien ist eigentümlich.
Grabsteine gibt es im Schlussverkauf zum halben Preis. Ja, wirklich. „Der Tod, der muss ein Wiener sein.“ Ein oft verwendetes Zitat. In Wien wird also gerne und oft gestorben? Wohl kaum. Sicherlich nicht öfter und mit größerer Begeisterung als anderswo. Aber irgendwie haben sich die Wiener mit dem Sensenmann arrangiert. Man kokettiert ungezwungen mit dem Thema „Tod“ und somit ist es kaum verwunderlich, dass dem interessierten Besucher dieses Thema in vielen Teilen Wiens begegnet. In Form des St.-Marx-Friedhofs findet man beispielsweise die einzige noch existierende Biedermeier-Begräbnisstätte. Engel begrüßen die Gäste. Eine tiefe Stille „überzieht“ das Areal. Uralte efeu-überwucherte und durch die Zeit gekennzeichnete Grabsteine begleiten den Besucher. Gesichtszüge der im tiefen Schatten liegender Skulpturen sind nur zu erahnen. Die Zeit hat an ihnen genagt. Eine stille Oase in der hektischen Großstadt – und das trotz der den Friedhof nahezu überspannenden Autobahn. Foltermuseum, Kaisergruft und Bestattungsmuseum sind nur einige dieser magischen Anziehungspunkte für Todesromantiker.
Unvermutet zwischen Lagerhallen und Fabrikationsstätten etwas außerhalb an der Donau gelegen findet man den Friedhof der Namenlosen. Früher trieben aufgrund der Strömung an dieser Stelle zahlreiche – namenlose – Wasserleichen an Land, welche an Ort und Stelle begraben wurden. Etwas über 100 Gräber befinden sich auf dem kleinen Grundstück. Fast alle sind mit ähnlichen Kreuzen geschmückt, was ein gleichförmiges und interessantes Bild ergibt.
Wien ist gegensätzlich.
Unweit des Zentralfriedhofs (dem Höhepunkt meines Wienbesuchs habe ich bereits einen eigenen Beitrag gewidmet) liegt Schloss Neugebäude. Kein prunkvoller Bau wie man ihn sich in Wien so vorstellt und welche man in der österreichischen Hauptstadt so zahlreich vorfindet. Schloss Neugebäude ist der nie vollendete Vorgänger von Schönbrunn. Unter der Herrschaft von Maria Theresia wurden viele Teile abmontiert und für den Bau des Schönbrunner Schlosses verwendet. Neugebäude wurde zusehends dem Verfall preisgegeben. Zäune und Baustellenschilder folgten. Eine sicherlich überaus spannende Besichtigung wäre nur „inoffiziell“ möglich gewesen. Mittlerweile sind den Zäunen und Baustellenschilder auch Taten in Form von Arbeiten gefolgt. Im Inneren finden nun u.a. Freiluftkinoveranstaltungen statt.
Der Gegensatz hierzu bildet das schon erwähnte Schloss Schönbrunn. Prunkvolle Bauten, große Gartenanlagen – und massenhaft Touristen, welche sich gegenseitig vor jedem Stein, jeder Mauer und jeder Säule ablichten. Man kann hier nur erahnen, welche Schmerzen und Langeweile die Verwandten und Nachbarn zuhause erwartet. Stichwort: Diaabend. Neben Prunk und Massentourismus bietet Schloss Schönbrunn auch ein „stilleres“ Schauspiel abseits des großen Hauptgebäudes. Auf den zahlreichen durch Bäume beschatteten Wegen kommt es zu amüsanten Begegnungen. Ohne zu zögern tauchen Eichhörnchen aus dem Unterholz auf und stecken ihre Köpfe durch die Hecken am Wegesrand. Ein „Respektsabstand“ zu den menschlichen Eindringlingen wird kaum einhalten. Erst, wenn man nichts Essbares vorzuweisen hat, wird man mit Missachtung bestraft. Ein Eichhörnchen schlägt Purzelbäume, springt aufgeregt hin und her und hängt sich Kopfüber an Äste. Ein seltsames und lustiges Schauspiel.
Auf dem Weg durch das Zentrum Wiens trifft man auf zahlreiche Kirchen. Allen voran natürlich der Stephansdom. Am Tage quälen sich Massen von Touristen durch die Gotteshäuser. Zu später Stunde ergibt sich ein anderes Bild. Wenn die Sonne hinter den Häusern verschwunden ist und die Stadt langsam in Dunkelheit getaucht wird, erwarten die wenigen Besucher der Gotteshäuser eine veränderte Stimmung. Man genießt die Stille. Einsam streift man durch die großen Kirchenschiffe. Mystisch flackern Kerzen in der Düsternis. Sicherlich erkennt man bei Tageslicht mehr, wenn das Sonnenlicht durch die hohen Kirchenfenster fällt, aber zum ansonsten eher rastlosen Innenstadtleben ist so ein nächtlicher Besuch eine willkommene und beruhigende Abwechslung.
Wien ist bombastisch.
Ein guter Kontakt zu einem Orthopäden kann ausgesprochen von Vorteil sein, wenn man sich auf einen Spaziergang durch die österreichische Hauptstadt begibt. Schließlich gibt es unzählige imposante Bauten zu bewundern. Auf den Dächern tummeln sich hier und da entschwebende Engel und andere interessante steinerne Bildnisse. Aufgrund der kaum zu vermeidenden lang anhaltenden ehrfürchtigen Blicke die Gebäudefronten nach oben ist ein steifes Genick fast schon vorprogrammiert. Auch in der Nacht lohnt sich eine Tour durch die Innenstadt Wiens. Deutsche Städte versinken angesichts latenten Geldmangels zunehmend in Dunkelheit – Wiener Gebäude und Sehenswürdigkeiten erstrahlen hingegen auch des Nachts in hellem Licht. Ein weiteres erstaunliches „Phänomen“ fällt im Vergleich mit anderen, mir bekannten Großstädten positiv auf: die beinahe unübertreffliche Sauberkeit. „Graffiti“-Schmierereien sieht man weder an Häuserfassaden, noch an U-Bahnwaggons. Müll auf den Straßen und Gehwegen findet man nur, wenn gerade einmal eine der frechen Krähen in aller Seelenruhe und den Passanten kaum Beachtung schenkend einen Abfallkorb entleert.
Wien ist verwirrend.
Apropos U-Bahn: wer das erste Mal vor einem Wiener Zonenplan steht, dürfte anfänglich etwas verwirrt dreinblicken. Eine enorme Anzahl Zonen sind in labyrinthischer Optik auf dem Plan aufgeteilt. Wer nicht verzagt, wird aber letztendlich erkennen, dass ganz Wien innerhalb der Stadtgrenze in eine einzige Zone eingeteilt ist – den Bedürfnissen des gewöhnlichen Touristen vollkommen ausreichend.
Amüsante Randerscheinungen sind hin und wieder auch unnötige wie verworrene Beschilderungen. Des Öfteren konnte ich mich beispielsweise an einem Durchfahrt-Verboten-Schild erfreuen. Dieses stand in einer Einbahnstraße und war zusätzlich mit dem Hinweis „Einfahrt erlaubt“ ausgestattet. Hm, wie war das noch mal mit der doppelten Verneinung? Oder handelt es sich um eine doppelte Bejahung (sofern es diesen Ausdruck überhaupt gibt) in Verbindung mit einer Verneinung?
Wien ist ursprünglich.
Fiaker – jeder kennt sie. Ohne sie würde im typischen Wiener Straßenbild etwas fehlen. Dumm nur, dass man vor einer ausgedehnten Fahrt einen Banküberfall unternehmen muss – nun ja, die Pferde wollen schließlich versorgt werden.
Vorsicht: Durch Wien wird auch schon mal marschiert. Nein, es handelt sich hierbei nicht um militärische Aufmärsche, sondern um Spielmannszüge. Auch die Tatsache, dass es sich bei der dargebotenen Musik nicht wirklich um jedermanns Geschmack handelt dürfte, sollte einen Wien-Besucher nicht veranlassen, sich so einer Kapelle in den Weg zu stellen. Ich würde jedenfalls nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass die Herren (und Damen?) rechtzeitig stoppen und man nicht „überrollt“ wird. Sich frühzeitig in Sicherheit bringen, ist die Garantie, die verbleibende Zeit in Wien unbeschwert genießen zu können…
2 Kommentare
Klasse Beitrag und mal ganz anders aufgezogen…ich war auch sehr verwundert über „ausrasten“ – wusste ich nicht, aber werde es mir für meinen nächsten Besuch in Wien merken.
Wie immer tolle Bilder. Auf den St. Marxer Friedhof haben wir es beim letzten Mal nicht mehr geschafft. Dort soll ja Mozart liegen, das Grab hast Du sicher gesehen, oder?
Übrigens: Der Kleine von der Müllabfuhr könnte eine Nebelkrähe sein, aber vllt. auch eine Dohle, oder??
An Mozarts Grab kann ich mich nicht erinnern. Mir persönlich sind Prominentengräber aber auch nicht so wichtig. Ich begeistere mich mehr für die künstlerische Gestaltung diverser Grabstellen bzw. für die Zeichen der Zeit, die so manches Grab aufweist und so das Kopfkino zum laufen bringt.
Ich denke, dass sich bei den Dohlen die helle Färbung auf den Hinterkopf ausdehnt, bei der Nebelkrähe der Kopf hingegen komplett schwarz ist. Meine ornithologischen Kenntnisse halten sich jedoch in äußerst überschaubaren Grenzen. Deshalb würde ich meine Hand für die Einschätzung, dass es sich auf dem Foto um eine Nebelkrähe handelt, nicht ins Feuer legen.